Zivilgesellschaft
Dritte Kraft im Iran
„Das, was momentan passiert, ist auf jeden Fall ein Wendepunkt“, sagt die iranische Künstlerin, Autorin und Aktivistin Parastou Forouhar, die in Deutschland lebt. Die letzten großen Proteste erlebte der Iran nach der Präsidentschaftswahl 2009. Amtsinhaber Mahmud Ahmadinedschad wurde zum Sieger erklärt, die Opposition witterte Wahlbetrug, und es kam zu den größten Unruhen seit der Islamischen Revolution, die 1979 die Monarchie beendete. „Damals wollten die Menschen wissen, wo ihre Stimme ist“, erklärte Forouhar bei einer Podiumsdiskussion der Heinrich-Böll-Stiftung in Frankfurt. Diesmal hingegen gebe es weder ein gemeinsames Anliegen noch eine Identifikationsfigur oder dominierende Forderung.
Die Proteste im gesamten Land wurden laut Forouhar von jungen Menschen unter 25 Jahren getragen. „Diese Generation will etwas aus ihrem Leben machen, sieht aber keine Perspektive.“ Zu den Hauptproblemen gehörten Korruption, Misswirtschaft und Bevormundung der Menschen, „vor allem durch religiöse Gesetze“. Viele Demonstranten lehnten die Islamische Republik grundsätzlich ab. „Sie setzen nicht auf eine der beiden Seiten innerhalb der Regierung“, erklärt die Aktivistin. Präsident Hassan Ruhani gilt als Reformer, die Anhänger von Revolutionsführer Ali Khamenei, dem mächtigsten Mann im Staat, als Konservative. „Das Potenzial ist sehr groß für eine dritte Sichtweise, eine neue Opposition“, sagt Forouhar.
Auch die deutsch-iranische Politikwissenschaftlerin Azadeh Zamirirad von der Stiftung Wissenschaft und Politik sieht einen „Wendepunkt in der Protestkultur“. Sie betont, dass die iranische Zivilgesellschaft sehr aktiv sei und Demonstrationen keineswegs untypisch. „Sie sind sogar charakteristisch für die Islamische Republik. Sie sind quasi Teil des Alltags“, sagt Zamirirad. Ob sich aus den jüngsten, disparaten Protesten, die „völlig abseits der politischen Eliten“ stattfänden, eine Bewegung entwickeln könne, bleibe abzuwarten. Die Iran-Analystin erkennt drei Dimensionen des Protests:
- Reformer gegen Konservative. Es gebe Anzeichen dafür, dass dieser Konflikt der Ausgangspunkt war.
- Ein Aufstand des Prekariats, der sich gegen Armut, Arbeitslosigkeit, Korruption und Preissteigerungen richtet.
- Systemproteste von Menschen, die nicht auf Seiten der Reformer oder der Konservativen stehen, sondern außerhalb.
Als Reaktion stellt Zamirirad Anzeichen für institutionelle Veränderungen fest; beispielsweise werde nun innerhalb der Regierung über Versammlungsfreiheit diskutiert. Eine Revolution in Form eines bewaffneten Umsturzes sei gar nicht nötig, wenn die Zivilgesellschaft sich nach und nach immer mehr Freiräume erobern kann. Als Beispiel nennt die Wissenschaftlerin die Kopftuchpflicht, die immer laxer gehandhabt werde. So würden die Tücher zunehmend bunter und rutschten tiefer: „Die Frauen erkämpfen sich dieses Recht Millimeter für Millimeter.“
Bei den Protesten rissen sich manche Frauen das Kopftuch ab. „Das ist langfristig nicht aufzuhalten.“ Die Mullahs müssten die Kopftuchpflicht eines Tages fallenlassen. Zamirirad betont: „Es gibt eine traditionell starke Frauenbewegung im Iran. Im Parlament sitzen mehr Frauen als Geistliche, das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.“
Forouhar sieht in dem öffentlichen Protest von Frauen gegen den Kopftuchzwang ein starkes Signal. Vida Movahed hatte ihn Ende Dezember ins Rollen gebracht, als sie auf einen Elektrokasten in Teherans Enghelab-Straße gestiegen war, ihr Kopftuch abgenommen und es auf einem Stock geschwenkt hatte. Für Forouhar ein Symbolbild – „weil sie eine Frau ist, weil sie oben steht und weil sie normale Klamotten trägt“. Movahed wurde verhaftet, aber kurze Zeit später wieder freigelassen. „Jetzt reproduziert sich die Aktion. Auch junge Männer solidarisieren sich. Sogar eine vollverschleierte Frau im Tschador ist auf einen Elektrokasten gestiegen und hat mit einem Tuch gewedelt“, sagt Forouhar. „Wenn so etwas passiert, kann man Hoffnung haben.“