Historische Verantwortung
Missverstandener Kampf gegen Antisemitismus
Von Angehörigen des Islam erwarten wir in Deutschland, dass sie sich vom Extremismus distanzieren und zum Existenzrecht Israels bekennen. Sonst hören wir ihnen nicht zu.
Israelis behandeln wir anders. Wer mit radikalzionistischen Motiven Siedlungen im Westjordanland baut, gilt als zu randständig und zu wenig ernst zu nehmen, als dass irgendjemand sich distanzieren müsste. Dabei ignorieren wir, dass die Siedlerbewegung im israelischen Kabinett prominent vertreten ist und – wie Premierminister Benjamin Netanjahu – das Existenzrecht eines palästinensischen Staates strikt ablehnt. Staatliche Sicherheitskräfte schützen die Siedlungen, die auch auf andere Weise gefördert werden.
Nicht nur palästinensischer Terrorismus verhindert seit Jahrzehnten den Frieden. Auch Israels radikalzionistische Kräfte tragen dafür Verantwortung. Zur Erinnerung: Den friedensbereiten Premier Jitzchak Rabin erschoss ein Israeli. Irrtümlich wird Israels populistische Rechte in hiesigen Medien oft „orthodox“ genannt. Das zeigt, wie wenig hierzulande über das Judentum bekannt ist. Tatsächlich ist nicht nur die Ablehnung von Wehrdienst, sondern auch Antizionismus in manchen orthodoxen Strömungen verbreitet.
Die Siedlungspolitik im Westjordanland hält seit Jahren an und gewinnt seit einiger Zeit an Tempo. Dort leben heute 600 000 bis 700 000 Israelis. Sie verfügen über solide Infrastruktur samt eigener Fernstraßen, die nur sie nutzen dürfen. All das erfordert Platz im ohnehin schon dicht besiedelten Besatzungsgebiet. Aufwendige Schutzstrukturen machen der palästinensischen Bevölkerung von rund 3 Millionen Menschen die Bewegung von Ort zu Ort schwer. Netanjahu artikuliert auch klar Annexionswünsche, obwohl dort laut Osloer Verträgen der palästinensische Staat entstehen soll. Einige Kabinettsmitglieder haben im Frühjahr sogar an einer Tagung teilgenommen, die bereits die israelische Besiedlung des Gazastreifens nach Kriegsende erwog.
Besatzungspolitik samt Siedlungsbau entsprechen seit Langem weder den Menschenrechten noch dem Völkerrecht. Wehrlose Menschen werden systematisch enteignet und oft auch umgebracht. Israelis erfreuen sich nach tödlicher Gewalt meist der Straffreiheit, wie Menschenrechtsorganisationen berichten, wohingegen die Militärjustiz minderjährige Teenager selbst nach folgenlosen Steinwürfen bei Protesten ins Gefängnis schickt. Nichts davon passt zum Gleichheits-, Demokratie- oder Rechtsstaatsverständnis unseres Grundgesetzes.
Umstrittene Begriffe
Es lässt sich darüber streiten, ob Israel Apartheid und Genozid vorgeworfen werden können. Es bringt aber nichts, schon die Verwendung der Begriffe als antisemitisch abzulehnen und damit die Diskussion zu unterbinden. Wir müssen ernst nehmen, dass der Internationale Gerichtshof (IGH) – anders als die Bundesregierung – Südafrikas Völkermordklage im Januar nicht für gegenstandslos erklärt hat. Sogar der israelische Richter stimmte für zwei der Auflagen, die der IGH Israel machte. Auch er forderte die Unterbindung genozidaler Rhetorik und die Beschleunigung humanitärer Hilfe.
Dennoch wächst sich in Gaza die Versorgungsnotlage nun zu der Hungersnot aus, vor der zivilgesellschaftliche Organisationen seit Januar warnen. Nicht einmal den USA hätten wir es verziehen, wenn so etwas im Irakkrieg geschehen wäre – und schon gar nicht, wenn ein Spitzenpolitiker vorher angekündigt hätte, „menschliche Tiere“ würden von Lebensmitteln und Wasser abgeschnitten. Das hat Yoav Gallant, Israels Verteidigungsminister, aber getan. Daran, dass in Gaza Kriegsverbrechen geschehen, besteht kaum Zweifel.
Ähnlich relevant ist, dass die israelische Menschenrechtsorganisation B’tselem seit Jahren von Apartheid spricht. Ihrem Beispiel folgten Human Rights Watch und Amnesty International, auf deren normalerweise juristisch solides Urteil wir sonst großen Wert legen. Ihnen pauschal Antisemitismus vorzuwerfen, wird der Sache nicht gerecht und verhindert die Auseinandersetzung über ernste menschenrechtliche Probleme.
Wir sagen immer wieder, Kritik an Israel bleibe erlaubt. Diplomatisch formulierte Beanstandungen verhallen aber ungehört, während auf härtere Rhetorik sofort das Antisemitismusurteil folgt und die Debatte beendet. Das entspricht dem rechtspopulistischen Politikstil Netanjahus. Er rechtfertigt im Zweifel alles mit Israels Sicherheitsbedürfnissen angesichts des weltweit grassierenden Antisemitismus. Dabei trägt die aggressive Besatzungspolitik zu regionalen Spannungen bei und weckt damit auch Ressentiments.
So lassen sich die vielen in Deutschland lebenden muslimischen Jugendlichen nicht erreichen. Sie sehen, dass wir im Falle des jüdischen Staates Dinge akzeptieren, die uns bei jeder islamischen Republik empören würden. Grundsätzlich lehnen wir es ab, eine Nation eng mit konfessionellen oder ethnischen Kriterien zu definieren und alle, die diesen nicht entsprechen, auszugrenzen. Indien darf aus unserer Sicht kein Hindustaat werden, und die überwiegend weißen „christlichen Nationalisten“, die in den USA Trump unterstützen, finden unsere Medien zu Recht abstoßend.
Jüdischer oder demokratischer Staat?
Die wichtige Debatte, ob Israel auf Dauer ein jüdischer oder ein demokratischer Staat sein soll, wird hierzulande kaum wahrgenommen. Ohne Zwei-Staaten-Lösung kann Israel jedoch nicht beides bleiben, denn zwischen Mittelmeer und Jordan leben ungefähr gleich viele palästinensische wie jüdische Menschen. Netanjahu fordert auf Dauer militärische Dominanz im gesamten Gebiet. In Bezug auf die Frage „jüdisch oder demokratisch“ spricht sein bislang erfolgloser Versuch, das Oberste Gericht zu entmachten, jedenfalls Bände. Es hat immer wieder Minderheitenrechte verteidigt.
Ernst zu nehmende Stimmen schlagen statt der Zwei-Staaten-Lösung inzwischen einen gemeinsamen säkularen Staat für alle Religionsgemeinschaften vor. Das ist lösungsorientiert, wenn auch kurzfristig ebenso wenig umsetzbar wie die Zwei-Staaten-Lösung. Hierzulande wird dennoch jedwedes Abrücken vom jüdischen Staat als antisemitisch abgelehnt.
Seit Jahrzehnten predigen wir arabischen Staaten, sie bräuchten Demokratie und Menschenrechte. Die Menschen dort wissen jedoch, dass Deutschland Israel diesbezüglich mit Blick auf die besetzten Gebiete keinen wirkungsvollen Druck macht. Lippenbekenntnisse zur Zwei-Staaten-Lösung schützen unsere Glaubwürdigkeit nicht, solange es folgenlos bleibt, dass Israels Regierung diese Lösung nach Kräften verhindert. Auch die Forderung nach mehr Schutz vor Siedlergewalt wirkt zu blass, weil das Ende der Siedlungspolitik und die volle Anerkennung palästinensischer Menschen- und Eigentumsrechte nötig wären. Uns sollte obendrein zu denken geben, dass Netanjahu offensichtlich die Eskalation des Gaza-Kriegs in einen regionalen Flächenbrand riskiert, den die Bundesregierung verhindern will.
Auch nichtmuslimische Menschen nehmen in Deutschland Doppelmoral wahr – zum Beispiel, wenn das, was wie ein Vergeltungsfeldzug in Gaza aussieht, pauschal mit dem „Selbstverteidigungsrecht Israels“ gerechtfertigt wird. In Gaza sind mittlerweile 34 000 Tote zu beklagen – mehrheitlich Frauen und Kinder.
Selbstverständlich rechtfertigt Israels rechtswidrige Besatzungspolitik nicht den blutrünstigen Terror der Hamas. Dieser macht jedoch auch die aktuellen Horrorszenarien in Gaza nicht akzeptabel. Wir sollten das Leid beider Seiten ernst nehmen, uns aber auch davor hüten, die Gräuel gegeneinander aufzuwiegen. Wer eine regelbasierte Weltordnung will, sollte darauf bestehen, dass der Internationale Strafgerichtshof Verbrechen beider Seiten ahndet.
Es stimmt, dass in Israelkritik oft antisemitische Topoi mitschwingen. Ebenso richtig ist, dass der Philosemitismus oft islamophobe Züge trägt. Keins von beidem macht berechtigte Kritik gegenstandslos. Davon, wie heute zwischen proisraelisch als dem Gegenteil von antiisraelisch (und mithin antisemitisch) polarisiert wird, profitieren indessen beide Kriegsparteien in Gaza. Sowohl Netanjahu als auch die islamistische Terrororganisation Hamas betreiben ausgrenzende Identitätspolitik. Beide inszenieren sich als einzig legitime Stimmen von Völkern mit langen Leidensgeschichten. Die Hamas gibt sich als Organisation, die sich gegen israelisches Unrecht wehrt – und ihre internationale Anschlussfähigkeit steigt, wenn dieses Unrecht heruntergespielt wird. Dabei übersehen viele, dass diese kriminelle Vereinigung, die bewusst einen Krieg provoziert hat, in dem zehntausende ihrer Landsleute in wenigen Monaten starben, die Bezeichnung „Befreiungsorganisation“ nicht verdient.
Zensurhafte Antisemitismusvorwürfe richten sich in Deutschland sogar gegen jüdische Intellektuelle, die mit Israels Politik nicht einverstanden sind. Es ist peinlich, wenn Berlins regierender Bürgermeister einem israelischen Regisseur vorschreibt, was in Deutschland über Israel/Palästina gesagt werden darf und was nicht. Es ist ähnlich befremdlich, wenn Kölns Universitätsrektor einer jüdischen Sozialwissenschaftlerin aus den USA eine Gastprofessur kündigt, weil sie einen Aufruf zum Boykott Israels aus Solidarität mit Palästina unterschrieben hat.
Freundespflicht
„Israelkritik ist Freundespflicht“, sagte der frühere Bundespräsident Johannes Rau gern, wie mir einer seiner ehemaligen Mitarbeiter mitteilte. So hielten es auch während der rot-grünen Koalition um die Jahrtausendwende Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul und Außenminister Joschka Fischer. Das war damals auch leichter, denn die Oslo-Verträge schienen eine bessere Zwei-Staaten-Zukunft einzuleiten.
Philosemitismus, die pauschale Unterstützung alles Jüdischen, ist aber auch heute kein Mittel gegen Antisemitismus. Fachleute vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin (Ullrich et al. 2024) bezeichnen Ersteren sogar als eine von vielen Formen des Letzteren. Sie warnen zu Recht davor, den vielschichtigen Terminus „Antisemitismus“ als politisches Schlagwort zu benutzen. Intellektuell ist schlecht informierter Philosemitismus dasselbe wie vorurteilsbeladener Antisemitismus – nur mit minus 1 durchmultipliziert. Wird er politisch instrumentalisiert, verhärtet er polarisierend sowohl projüdische als auch antijüdische Positionen. Besonders gefährlich wird es, wenn Philosemitismus in pauschale Unterstützung Israels umschlägt. Es weckt nämlich neue Ressentiments, wenn berechtigte Israelkritik als bloßer Antisemitismus abgetan wird.
Tatsächlich trägt Deutschland nach dem Nazi-Völkermord eine Verantwortung für Israels Sicherheit. Weil der jüdische Staat aber auf längst besiedeltem Gebiet entstand, folgt daraus auch eine Verantwortung für die Sicherheit von Palästinenser*innen. Wir müssen für die Rechte der Vertriebenen und ihrer Nachfahren sowie der in den besetzten Gebieten ansässigen Menschen eintreten, anstatt identitätspolitisch für eine Seite Partei zu ergreifen. Wir lehnen es zu Recht ab, allen Juden und Jüdinnen Verantwortung für israelische Politik zuzuschreiben. Entsprechend dürfen wir auch nicht alle Palästinenser*innen für den Terror der Hamas in Mithaftung nehmen.
Wenn wir die jüdische Minderheit in Deutschland vor Antisemitismus schützen und zu Israels Sicherheit beitragen wollen, dürfen wir keine rhetorischen Keulen schwingen, sondern müssen in Diskussionen sorgfältig analysieren und abwägen. Deutschland tritt international für Frieden, Demokratie und Menschenrechte ein. Wenn wir bei Israel Ausnahmen machen, kostet uns das unsere Glaubwürdigkeit. Wir verlieren auch unsere Anschlussfähigkeit in vielen Partnerländern, und zwar nicht nur in den vom Islam geprägten Ländern.
Literatur
B’tselem, 2021: Not a “vibrant democracy”. This is apartheid.
https://www.btselem.org/publications/202210_not_a_vibrant_democracy_this_is_apartheid
Ullrich, P. et al., 2024: Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft. Göttingen: Wallstein.
Hans Dembowski ist Chefredakteur von E+Z/D+C.
euz.editor@dandc.eu