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Völker(straf)recht

Humanitäres Völkerrecht gilt absolut

Der Gaza-Krieg wirft schwierige Fragen zu möglichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf. Allerdings kann die strafrechtliche Verantwortlichkeit aus der Ferne kaum beurteilt werden, wie der Völkerstrafrechtler Kai Ambos im E+Z/D+C-Interview erläutert.
IStGH-Chefankläger Karim Khan zu Besuch bei Autonomiebehörden-Präsident Mahmud Abbas. picture alliance / Anadolu / Palestinian Presidency / Handout IStGH-Chefankläger Karim Khan zu Besuch bei Autonomiebehörden-Präsident Mahmud Abbas.

Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Karim Khan, hat Israel und die Hamas ermahnt, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten. Andernfalls müssten sie mit Anklagen rechnen. Ist der IStGH überhaupt zuständig?

Ja, denn Palästina ist 2015 dem IStGH beigetreten und hat ihm damit die Zuständigkeit für Taten auf palästinensischem Staatsgebiet (Westjordanland, Ostjerusalem und Gazastreifen) übertragen. Zwar ist der Status Palästinas als Staat völkerrechtlich umstritten, für die Zwecke des IStGH-Statuts wurde er aber in einer Entscheidung der zuständigen Vorverfahrenskammer (Pre-Trial Chamber) 2021 anerkannt. Folglich kann der IStGH wegen Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen ermitteln und gegebenenfalls Personen anklagen und aburteilen. Darüber hinaus ist der IStGH auch für Taten palästinensischer Staatsangehöriger (also Hamas-Mitgliedern) außerhalb Palästinas zuständig, also auch in Israel, obwohl es kein Vertragsstaat des IStGH ist.

Arabische Stimmen werfen Khan vor, er habe sich, als er jüngst Israel und Palästina besuchte, vor allem mit den Hamas-Attentaten beschäftigt und damit vom angeblichen Völkermord in Gaza abgelenkt. Ist an dem Genozid-Vorwurf etwas dran? Die Zahl von 18 000 Toten in neun Wochen scheint unverhältnismäßig hoch. 

Es ist leicht, mit juristischen Begriffen wie Genozid politisch Stimmung zu machen. Rechtlich ist die Sache sehr viel schwieriger. Es wäre aussichtsreicher, erst mal nach Kriegsverbrechen zu fragen. Ob ein bestimmter militärischer Angriff unverhältnismäßig ist, richtet sich nach dem sogenannten humanitären Völkerrecht. Dafür gibt es keine mathematische Formel, und es hängt entscheidend von den Umständen des Einzelfalls ab. So kann man zwar sagen, dass ein Krankenhaus, wie jede medizinische Einrichtung, besonderen Schutz genießt; doch kann auch dieser Schutz entfallen, wenn sich darunter eine Kommandozentrale verbirgt; der Angriff muss dann allerdings immer noch verhältnismäßig sein. Ob er das war, lässt sich aus der Ferne nicht seriös beurteilen, weil man den genauen Sachverhalt nicht kennt. 

Beim Vorwurf Völkermord müsste Vernichtungsabsicht nachgewiesen werden. Ist es juristisch relevant, dass israelische Spitzenleute immer wieder genozidale Rhetorik verwenden? Dabei geht es um Formulierungen wie „Gaza plattmachen“ sowie um Vorschläge, das Gebiet unbewohnbar zu machen. Der israelstämmige Holocaustforscher Omer Bartov warnt, auf solche Sprüche folge nach historischer Erfahrung häufig auch genozidales Handeln. 

Bartov wählt seine Worte klug. Er spricht von drohendem Genozid, behauptet aber nicht, dass er schon stattfindet. In der Tat gibt es besorgniserregende Äußerungen von bestimmten israelischen Politikern. Sie können zum Nachweis einer bestimmten Absicht auch durchaus relevant sein, aber man kann sie nicht ohne Weiteres den Personen zurechnen, die die militärischen Entscheidungen treffen.  

Von „menschlichen Tieren“ sprach Verteidigungsminister Yoav Gallant.  

Ja, leider, und auch von der totalen Abriegelung des Gazastreifens. Diese Aussage ist aus völkerrechtlicher Sicht inakzeptabel und die entsprechende Praxis völkerrechtlich verboten und sogar als Kriegsverbrechen strafbar. Ob aus der Bezeichnung einer Gruppe von Personen als „menschliche Tiere“ eine Genozidabsicht gefolgert werden kann, hängt von vielen Faktoren ab. Eine von mehreren wichtigen Fragen ist, ob mit der Aussage die gesamte palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen oder nur die Kämpfer der Hamas gemeint sind. 

Fest steht aber, dass die Hamas Kriegsverbrechen begeht, oder? Sie verschanzt sich hinter Zivilisten und Zivilistinnen, nimmt Geiseln, beschießt zivile Wohngebiete in Israel mit Raketen …

Zunächst einmal ist klar, dass die konkreten Taten des 7. Oktober völkerrechtliche Verbrechen darstellen, und zwar vor allem Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form von Tötungen, Vergewaltigungen, Entführungen et cetera. Im Übrigen hält sich die Hamas als nichtstaatliche Konfliktpartei auch nicht an die Regeln des humanitären Völkerrechts, etwa der Pflicht zur Kenntlichmachung ihrer Kämpfer. Auch der Gebrauch sogenannter menschlicher Schutzschilde stellt ein Kriegsverbrechen dar – jedenfalls wenn diese sich nicht freiwillig zur Verfügung stellen. Aber alle Rechtsverstöße der Hamas entheben Israel nicht von der Einhaltung des humanitären Völkerrechts. Denn dessen Regeln gelten absolut und unabhängig vom Verhalten der anderen Konfliktpartei. Konkret: Die als menschliche Schutzschilde missbrauchten Zivilpersonen verlieren damit nicht ihren Schutz vor Angriffen. Vielmehr muss die angreifende Partei (Israel) alles dafür tun, dass Zivilisten nicht geschädigt werden. 

Pro-israelische Stimmen bezeichnen die auf Demonstrationen oft geäußerte Formulierung, Palästina solle „vom Fluss bis zum Meer“ frei sein, als genozidal, weil sie dem Existenzrecht Israels widerspricht. In Deutschland ist er seit Mitte November verboten. 

Da muss man differenzieren. Ob eine solche Äußerung genozidal gemeint ist, kommt auf die Auslegung ihres Inhalts und auf die Perspektive des Auslegenden an. Wer diesen Slogan schreit, könnte damit provokant darauf abzielen, dass Israel seit 1967 vom Jordan bis ans Mittelmeer militärische Kontrolle ausübt. Es gehe also primär um das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser, aber nicht um das Existenzrecht Israels in den Grenzen vor 1967 oder gar der Juden insgesamt. Natürlich kann der Rufer eine genozidale Absicht haben, aber um diese nachzuweisen, reicht nicht allein dieser Slogan aus. Die andere Frage ist, ob man rechtlich und vor allem strafrechtlich solche Meinungsäußerungen, so abscheulich oder irrig man sie auch finden mag, überhaupt einfangen kann. Es stellt sich also die Frage, inwieweit das (Straf-)Recht dazu taugt, bestimmte Gesinnungen zu regulieren. Ich habe da große Zweifel. Wenn man etwa nun von Migranten und Migrantinnen bei der Einbürgerung ein Bekenntnis zum Existenzrecht Israels verlangt, dann werden sie sich eben dazu bekennen, wenn ihnen die Einbürgerung so wichtig ist. Das ist aber dann kein echtes, sondern nur ein opportunistisches Bekenntnis. Was hat der deutsche Staat davon?

Neben Genozid ist Apartheid ein derzeit häufig verwendeter Begriff. Trifft er auf Israel zu, oder dient er antisemitischer Propaganda?

Auch diese Frage ist sehr kompliziert. Ich habe dazu gerade ein ganzes Buch geschrieben. Da versuche ich zunächst einmal den Apartheidbegriff historisch und rechtlich zu erklären. Von diesem Rechtsbegriff ausgehend, ist dann zu fragen, ob die israelische Praxis in den besetzten Gebieten, insbesondere im Westjordanland, Apartheid im rechtlichen Sinne darstellt. Dafür spricht leider einiges. Diese Debatte ist nicht neu, sondern findet schon seit Jahrzehnten in den UN, der Zivilgesellschaft und in akademischen Kreisen statt. Der Vorwurf des Antisemitismus hilft da nicht weiter. Es sind ja vor allem auch israelische Gruppen, wie etwa die zivilgesellschaftliche Organisation B’Tselem und israelische Intellektuelle wie Amos Goldberg (in der F.A.Z. vom  23. August 2023), die diesen Vorwurf erheben. Mein Anliegen ist es, die Debatte zu versachlichen, indem ich zunächst den Begriff rechtlich kläre und ihn dann auf die Situation in den besetzten Gebieten anwende. 

Aber der Bau permanenter Siedlungen im besetzten Westjordanland ist ein Kriegsverbrechen? 

Zunächst einmal verstößt die Siedlungspolitik gegen das humanitäre Völkerrecht, weil die grundsätzliche temporäre Natur einer Besatzung die Schaffung vollendeter Tatsachen in dem besetzten Gebiet ausschließt. Die permanente Ansiedlung eigener Bevölkerung in dem besetzten Gebiet wurde deshalb auch mit dem Römischen Statut des IStGH zu einem Kriegsverbrechen gemacht. Dies war übrigens der Hauptgrund dafür, dass Israel 1998 gegen das Statut gestimmt hat. Die permanente Ansiedlung führt ja auch zu einer Fragmentierung eines zukünftigen palästinensischen Staats und richtet sich deshalb letztlich gegen die Zwei-Staaten-Lösung, die nun ja wieder in aller Munde ist. 

In Deutschland steht Kritik an Israel tendenziell unter Antisemitismusverdacht, und kritische Stimmen aus Israel werden kaum wahrgenommen.  

Das ist bedauerlich, denn die fundierteste Kritik an der israelischen Politik stammt oft aus Israel selbst. Das zeigt sich sowohl in der Apartheidsdiskussion, aber auch in der Frage zu den rechtlichen und ethischen Implikationen der Besatzungspolitik. Alles, was wir dazu hier diskutieren, wurde meist schon von israelischen Kollegen*innen besser und genauer gesagt. Umso wichtiger ist es, diese Vielfalt der israelischen Demokratie und Diskussionskultur zu erhalten. Verbote und Tabuisierungen sind bei alldem eher kontraproduktiv. 

Kai Ambos ist Professor für Strafrecht und Völkerrecht an der Universität Göttingen und Richter am Kosovo-Sondertribunal in Den Haag. Er äußert hier seine persönliche Meinung. Sein Buch erscheint demnächst, ein kürzerer Aufsatz dazu im Fordham International Law Journal (www.fordhamilj.org).  
kambos@gwdg.de 

Kai Ambos is a professor of criminal and international law at the University of Göttingen and a judge at the Kosovo Special Tribunal in The Hague. The views expressed here are personal. His apartheid paper will soon appear in the Fordham International Law Journal. (www.fordhamilj.org).  
kambos@gwdg.de

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