Naher Osten

Leben zwischen Hoffnung und Ohnmacht

Im Westjordanland dreht sich die Spirale der Gewalt immer weiter. Für viele frustrierte junge Palästinenser*innen führt die Suche nach Gerechtigkeit in die Radikalisierung.
Israelische Zivilverwaltung und Grenzpolizei reißen im Mai 2024 ein Haus in Masafer Yatta ab. picture-alliance/Middle East Images/Emily Glick Israelische Zivilverwaltung und Grenzpolizei reißen im Mai 2024 ein Haus in Masafer Yatta ab.

Auf seinem Instagram-Kanal teilt Alaa Hathleen ein Video von einem Gebäude, aus dem flackerndes Licht auf die Umgebung fällt. „Siedler brennen das Haus von Yousef Muhammad Al-Jabarin in Shaab Al-Batm in Masafer Yatta nieder“, schreibt der 25-jährige gelernte Physiotherapeut zu den Bildern. Er lebt in Masafer Yatta, einer Ansammlung palästinensischer Ortschaften im Westjordanland, südlich von Hebron. Dort kommt es immer wieder zu Angriffen israelischer Siedler.

Die Region erlangte zuletzt größere Aufmerksamkeit durch den Film „No Other Land“, der 2024 in die Kinos kam und die Gewalttaten in Masafer Yatta festhält. „Sie töten die Ziegen und Schafe, schneiden die Kabel für die Solarpanels durch, zerstören unsere Olivenhaine und zünden unsere Autos oder sogar Häuser an“, sagt Hathleen. Auf Instagram dokumentiert der Aktivist die Übergriffe.

Im Jahr 1981 bestimmte Israel die Region zu einem militärischen Übungsgebiet, seitdem wehren sich die zwölf Gemeinden gegen eine Zwangsumsiedlung. Im Mai 2022 entschied der Oberste Gerichtshof schließlich gegen sie. Zivilgesellschaftliche Organisationen wie Amnesty International befürchten, dass nun Räumungen Platz schaffen sollen für israelische Siedlungen.

Der Druck des israelischen Militärs auf die Bewohner*innen hat seither stark zugenommen, ebenso Übergriffe durch extremistische Siedler. „Militärs dringen nachts in die Dörfer ein, erlassen Ausgangssperren und beschränken die Bewegungsfreiheit, führen Truppenübungen in der Nähe von Wohngebieten durch, beschlagnahmen Fahrzeuge und beschädigen Häuser. Sie machen den Menschen das Leben hier praktisch unmöglich“, sagt David Cantero Pérez, Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen in den besetzten palästinensischen Gebieten, in einem Pressestatement 2023 über Masafer Yatta.

„Während ich aufgewachsen bin, habe ich mich immer gefragt, weshalb wir keine Elektrizität, kein Wasser und keine Grundrechte haben, die israelischen Siedler in unserer unmittelbaren Nähe aber schon“, sagt Hathleen. Wie ihm geht es vielen jungen Menschen im Westjordanland. Sie fühlen sich ihrer Rechte beraubt, den Übergriffen durch israelische Siedler und der Armee ausgeliefert und von ihrer Regierung im Stich gelassen. „Innerhalb der palästinensischen Gesellschaft gibt es ein starkes Bewusstsein für persönliche Rechte und zugleich die Frustration, diese Rechte nicht in Anspruch nehmen zu können“, sagt Nizar Farsakh, Dozent für Internationale Beziehungen an der George Washington University in Washington DC und früherer Berater des palästinensischen Präsidenten. „Es entsteht ein extremes Gefühl der Ungerechtigkeit, gegen das sich vor allem junge Palästinenser auflehnen.“

Legitimitätsverlust der Regierung

Auf Hilfe der eigenen Regierung können die Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten nicht hoffen. Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) hat nur in bestimmten Gebieten des Westjordanlands administrative und sicherheitsrelevante Befugnisse. In den sogenannten C-Gebieten, die etwa 60 Prozent des Westjordanlands ausmachen, liegt die vollständige Kontrolle bei Israel. Dort dürfen palästinensische Sicherheitskräfte keine Einsätze durchführen, auch nicht zum Schutz der eigenen Bevölkerung. Zudem ist die PA vertraglich verpflichtet, mit israelischen Sicherheitskräften zusammenzuarbeiten. Dies wird von vielen Palästinenser*innen als Kollaboration mit dem Besatzungsregime wahrgenommen und untergräbt deren Vertrauen in die PA.

Laut einer Umfrage des Palestinian Center for Policy and Survey Research (PCPSR) vom März wünschen sich 84 Prozent der Palästinenser*innen den Rücktritt von PA-Präsident Mahmoud Abbas. Nur acht Prozent der Palästinenser*innen im Westjordanland sind zufrieden mit seiner Arbeit. „Die Regierung von Abbas und der Fatah hat bei der überwiegenden Mehrheit der Palästinenser*innen jede Autorität und Legitimität verloren. Sie gelten als Wegbereiter der Besatzung“, erklärt Sven Kühn von Burgsdorff, zwischen 2020 und 2023 EU-Diplomat für die Palästinensischen Gebiete.

Aus Wut über die Besatzung und die fehlende Repräsentation durch die eigene Regierung nehmen viele Palästinenser*innen ihr Schicksal selbst in die Hand. „Palästinenser wissen, dass sie keine Hilfe von der eigenen Regierung und ihren Sicherheitskräften erwarten können“, sagt Kühn von Burgsdorff. Dadurch sei in den vergangenen Jahren die Gewaltbereitschaft vor allem unter jungen Palästinenser*innen gestiegen. „Ältere Generationen sind weniger gewaltbereit als jüngere, denn sie tragen das Trauma der blutigen zweiten Intifada in sich und möchten deshalb auf den Einsatz von Gewalt verzichten“, erklärt der Ex-Diplomat. Während der ersten Intifada (1987 bis 1993) und der gewaltvolleren zweiten (2000 bis 2005) begehrten Palästinenser*innen gegen die israelische Besatzung auf.

Extremistische Gruppen erstarken

Von der steigenden Gewaltbereitschaft junger Palästinenser*innen profitieren Milizen und extremistische Gruppen wie die Hamas. Laut einer Studie des Beratungsunternehmens Arab World for Research and Development (AWRAD) vom Mai würden 34 Prozent der Palästinenser*innen im Westjordanland im Alter von 18 bis 24 Jahren aktuell die Hamas wählen. Damit wäre diese im Westjordanland die stärkste Kraft. Die regierende Partei Fatah erhielt hingegen nur 13 Prozent der Stimmen.

Hinzu kommen Milizen wie die „Lions“ in Nablus im zentralen Westjordanland oder die „Jenin-Brigaden“ weiter nördlich. Junge Palästinenser*innen suchen hier nach Identität und einer Möglichkeit, ihrem Frust Ausdruck zu verleihen. Sie hoffen auf eine Gemeinschaft, die in ihren Augen für Gerechtigkeit und Selbstbestimmung kämpft. „Milizen haben sich vornehmlich in den palästinensischen Flüchtlingslagern entwickelt. Denn in den Flüchtlingslagern leben Palästinenser*innen, die nichts mehr verlieren können, weil sie schon alles verloren haben“, sagt Farsakh.

Durch die zunehmende Gewalt auf beiden Seiten gewinnen radikal-religiöse Kräfte immer mehr an Einfluss. Religiöse Rhetorik wird sowohl von extremistischen Palästinenserorganisationen als auch von der israelischen Regierung und der Siedlerbewegung instrumentalisiert, um politische und ideologische Ziele zu erreichen und Anhänger*innen zu mobilisieren. Religion dient oftmals als Legitimation für extreme Überzeugungen und drängt säkulare Bewegungen zunehmend in den Hintergrund.

Für einen Ausweg aus der Gewalt­spirale müsste sich laut Ex-Diplomat Kühn von Burgsdorff Israel in seiner Position bewegen. „Das Problem ist, dass es ein zutiefst ungerechtes System gibt. Die Lage wird sich nur ändern, wenn die strukturelle Gewalt der Besatzung endet“, sagt er. Aus seiner Sicht sollten Amerikaner und Europäer auf Israel einwirken, die Besatzung aufzugeben.
Ein Ende der Gewalt ist nicht in Sicht. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem folgenden Krieg hat sich die Lage im Westjordanland weiter verschlechtert. Die jüngste Genehmigung neuer Siedlungen durch die israelische Regierung heizt die angespannte Lage zusätzlich an.

Kim Berg ist Redakteurin bei der Kommunikationsagentur Fazit und spezialisiert auf politische Kommunikation.
kim.berg@fazit.de 

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