Global Governance
Was läuft falsch bei WTO und IWF?
Vor vier Jahren sagten Sie mir, die Welthandelsorganisation (WTO – World Trade Organization) sei in einem schlechten Zustand. Sie begründeten das unter anderem mit dem von US-Präsident Donald Trump damals angezettelten Handelskrieg mit China. Obendrein blockierte das Weiße Haus die Ernennung neuer Schiedsrichter für die Streitschlichtungsgremien der WTO. Hat sich die Lage gebessert?
Nein, sie ist schlimmer geworden. Es gibt mehrere Anzeichen der Funktionsstörung. Weil die Streitschlichtungsgremien unterbesetzt und ineffektiv bleiben, wirkt die WTO zahnlos. Tatsächlich regeln China und die USA ihre Handelsbeziehungen bilateral und nicht mehr über die WTO. Zugleich gibt es einen Trend zum Abschluss sogenannter plurilateraler Handelsabkommen, an denen sich manche, aber nicht alle WTO-Mitglieder beteiligen.
Bitte nennen Sie Beispiele.
Stand Anfang März sind 53 Länder an dem Abkommen über Informationstechnologie (ITA – Information Technology Agreement) beteiligt, 23 akzeptieren das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (TISA – Trade in Services Agreement), und 19 sind dem Abkommen über das öffentliche Beschaffungswesen beigetreten. 40 Länder verhandeln über ein Umweltgüterabkommen (EGA – Environmental Goods Agreement), das sich auf ökologisch wichtige Produkte wie Windturbinen, Solarpaneele und Ähnliches bezieht. Gemeinsame Regeln für den elektronischen Handel haben 17 Länder angenommen. In einigen Fällen sind die USA, die EU und China beteiligt. Sie sind an einem regelbasierten System interessiert, wollen aber nicht jede Regel akzeptieren und glauben auch nicht, dass sie mit einem inklusiven Ansatz, der alle WTO-Mitglieder einbezöge, viel erreichen können.
Die Handelslandschaft wird also zunehmend fragmentiert und komplex. Obendrein neigen USA und EU dazu, bilaterale Handelsabkommen mit einzelnen Ländern oder regionalen Wirtschaftsgemeinschaften abzuschließen.
Ja, und damit erweisen sie den am wenigsten entwickelten Ländern, deren Kapazitäten besonders gering sind, einen Bärendienst.
Sollten wir die WTO also für tot erklären? Ich denke, das will niemand. Schließlich kann sie sich ja doch noch mal als nützlich erweisen. Wer sie jetzt aufgibt, erscheint destruktiv.
Das stimmt, und deshalb beobachten wir das langsame Dahinsiechen der WTO.
Was können und sollten Regierungen tun, um das zu ändern?
Sie müssten vorläufig den Plurilateralismus akzeptieren, aber dafür sorgen, dass keine grundlegenden Regeln verletzt werden. Und sie müssen sich auf das globale Gemeinwohl besinnen. Im Sinne eines Weltabkommens, könnten sie sich mit geringeren und weniger ehrgeizigen Zielen zufriedengeben. Das wäre ein realistischer Ansatz, um breiten Konsens zu erreichen.
Zu den Problemen trägt bei, dass US-Präsident Joe Biden die aktive Rolle des Staates in der Wirtschaft wiederentdeckt hat. Sein Inflation Reduction Act (IRA) subventioniert klimafreundliche Investitionen in den USA. Der EU behagt das nicht, weil die USA Investitionen zulasten der entsprechenden Branchen in Europa abwerben könnten. Vermutlich werden EU und USA sich auf eine für beide Seiten stimmige Politik einigen. Ich frage mich aber, ob sie die Schwellen- und Entwicklungsländer einbeziehen.
Das Weiße Haus will kein Abkommen, das chinesische Unternehmen in irgendeiner Weise fördern würde, welche die USA nicht kontrollieren könnten. Indirekt erkennt der IRA die Bedeutung der Industriepolitik an, welche die USA lange negierten. Grundsätzlich wird Umweltprotektionismus die WTO weiter schwächen. Die Erhebung von Klimazöllen würde die Wettbewerbsvorteile von Ländern mit niedrigen Einkommen begrenzen. Wir brauchen die Transformation zu sauberer Energie, aber sie muss auch den Schwächsten zugutekommen.
Die Weltwirtschaftsordnung, die nach dem Fall der Berliner Mauer entstand, basierte auf marktorthodoxen Ideen. Neben Biden haben aber inzwischen auch multilaterale Institutionen wie etwa der Internationale Währungsfonds (IWF) die Rolle des Staates wiederentdeckt. Was bedeutet das?
Bislang nur wenig, fürchte ich. Die Geschichte des IWF lässt sich in drei Perioden aufteilen, was übrigens auch für seine Schwesterinstitution, die Weltbank, gilt:
- Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis etwa in die 1980er-Jahre unterstützten beide Institutionen Staatshandeln und legten Wert auf internationale makroökonomische Stabilität mit festen Wechselkursen.
- Es folgte die Ära der Strukturanpassung, in der sie auf Marktdynamik setzten und darauf bestanden, dass verschuldete Regierungen ihre Haushalte ausgleichen und nationale Preisstabilität erreichen sollten. Die Sparpolitik führte oft zu erheblichen Härten, besonders wenn das Bildungs- und Gesundheitswesen darunter litten. Langfristig erwies sich das Konzept der Strukturanpassung als unhaltbar. Die vermeintlich „entfesselten“ Marktkräfte lösten nicht die Art von Wachstum aus, das allgemeinen Wohlstand ermöglicht hätte. Viele arme Länder konnten nicht einmal die Schulden zurückzahlen, die sie zur Umsetzung der Strukturanpassung aufgenommen hatten. Um die Jahrtausendwende war dann in vielen Fällen Schuldenerlass unumgänglich.
- Die dritte Periode begann mit der globalen Finanzkrise von 2008. Der IWF änderte seine Rhetorik, aber die Weltanschauung blieb im Kern dieselbe.
Bitte erläutern Sie das.
Nehmen Sie zum Beispiel die Forschung, die der IWF betreibt. Ich finde, die empirischen Daten sind oft recht interessant, aber die Schlussfolgerungen sind dann wieder auf Strukturanpassungsdenken ausgerichtet. Eine IWF-Studie konstatiert in der Regel, dass makroökonomische Stabilität es ermöglicht hat, die Armut zu verringern. Ob das ein robustes Ergebnis ist, bleibt offen, denn der umgekehrte Fall wird nie untersucht. Vielleicht beruht die makroökonomische Stabilität doch darauf, dass eskalierende Krisen, wachsende Armut und schwindende politische Stabilität die jeweilige Regierung nicht überfordert haben. Der IWF ist rhetorisch flexibler geworden, aber das Paradigma „der Markt weiß es besser“ ist so tief verwurzelt, dass die Institution aus Erfahrung nicht wirklich gelernt hat.
Vor einiger Zeit kritisierten Malina Stutz und Kristina Rehbein von erlassjahr.de den IWF auf unserer Plattform und schrieben, seine Politik habe sich gegenüber einzelnen Ländern nicht geändert, obwohl er wegen Klimakrise und Covid-19-Pandemie öffentlich mehr Staatshandeln fordert. Stimmen Sie den beiden Frauen zu?
Die Richtung stimmt, aber ich weiß nicht, ob ich in jedem Detail mit Ihren Autorinnen übereinstimme. Ich möchte etwas ganz anderes ansprechen. China ist das Land, das Armut in den letzten 40 Jahren am erfolgreichsten bekämpft hat. Der Rückgang der weltweiten Armut ist vor allem der Volksrepublik zu verdanken. Sie befolgte den IWF-Rat aber nicht unbedingt, sondern liberalisierte Märkte auf experimentelle Weise. Der chinesische Staat spielte dabei in vielen Bereichen weiterhin eine wichtige Rolle – inklusive Bildung und Infrastruktur. Das Ergebnis waren über lange Zeit sehr hohe Wachstumsraten und Wohlstand auf beeindruckend breiter Basis. Dieser Erfolg hat jedoch keinen erkennbaren Einfluss auf die Denkweise des IWF.
Mein Eindruck ist, dass China unter Präsident Xi Jinping zunehmend totalitär wird. Ich weiß nicht, ob wir noch von einem Entwicklungsregime sprechen können.
Das weiß ich auch nicht. Vielleicht ist es heute kein Entwicklungsregime mehr. Aber macht das den materiellen Fortschritt, den Xis Vorgänger erreichten, irgendwie zunichte? Natürlich nicht. Multilaterale Institutionen sollten ihr Bestes tun, um Lehren aus Chinas Aufstieg zu ziehen.
Spielt es eine Rolle, dass die USA, die EU und Japan die wichtigen Anteilseigner des IWF sind?
Lassen Sie es mich so ausdrücken: Es überrascht mich nicht, dass diese Institution generell den Interessen der dominanten Anteilseigner dient. Ein Thema, bei dem dies überdeutlich wurde, war die lockere Geldpolitik des vergangenen Jahrzehnts. Der IWF hat diese Strategie, mit denen Länder mit hohem Einkommen in der Zeit nach 2008 die Krise bewältigten, nie infrage gestellt, obwohl sie weltweit Auswirkungen auf die Liquidität hatte. So etwas hätte er in einem Schwellen- oder Entwicklungsland nicht akzeptiert.
Aber er hat doch keinen wirklichen Einfluss auf Länder mit hohen Einkommen, sondern nur dann, wenn eine Regierung sein Geld braucht.
Ja, aber der IWF hat die lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank auch im Kontext der Rettungspakete für Griechenland nicht infrage gestellt. Die lockere Geldpolitik hat jetzt harte Folgen. Sie hat zum Anstieg der Inflation in den letzten zwei Jahren beigetragen, Ungleichheit verschärft und Schuldenprobleme in vielen Ländern verschlimmert. Private Finanziers haben nämlich vielfach Kredite in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen vergeben, wo höhere Renditen winkten als in Ländern mit hohen Einkommen.
Der IWF warnt seit einiger Zeit, die Staatsschulden vieler Länder würden untragbar. Dort wo Umschuldungsverhandlungen begonnen haben, beharrt China gewöhnlich auf der Position, es werde nur dann auf Kredite verzichten, wenn die Weltbank dies auch tue, denn Weltbankkredite seien ja westliche Kredite. Das macht die Beteiligung privater Gläubiger schwieriger. Wäre es eine Lösung, auch Kredite der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank (AIIB) von den Schuldenerlassen auszunehmen? Sie ist eine von China dominierte multilaterale Institution, die der Weltbank durchaus ähnelt.
Das könnte sinnvoll sein, ich weiß aber wirklich nicht, was die westlichen Regierungen akzeptieren würden.
Die chinesische Führung besteht außerdem darauf, dass die Volksrepublik ein Entwicklungsland ist. Ihr Umgang mit Schuldenfragen schadet aber Entwicklungsländern.
China ist ein sehr ungewöhnliches Land. Ich finde, es passt in keine gebräuchliche Kategorie. Klar ist, dass der Regierung nationale Interessen sehr bewusst sind. Manchmal stimmen diese mit denen der am wenigsten entwickelten Länder überein – und manchmal auch nicht.
Wie kann der IWF offener werden?
Er muss vom Gruppendenken loskommen. Die Qualität seiner Forschung ist zwar recht gut, aber die Schlussfolgerungen sollten sorgfältiger abgeleitet werden und weniger doktrinär ausfallen. Sie sollten das Gruppendenken nicht weiter unterstützen. Selbstverständlich ist makroökonomische Stabilität wichtig, aber was heißt das genau? Es geht nicht nur um Finanzdaten. Wenn die Armut wächst, ist das System nicht stabil. Wenn eine Volkswirtschaft externe Schocks wie eine Pandemie oder wiederkehrendes Extremwetter nicht verkraftet, ist sie ebenfalls nicht stabil. Die Forschung des IWF muss diese Fragen bearbeiten, damit die Institution die notwendigen Lektionen lernt.
Iwan J. Azis ist Professor an der Cornell University in Ithaca, New York, und Gastprofessor an der University of Indonesia in Jakarta.
http://iwanazis.com/