Greenpeace

Unerforschte Tiefen

Die Weltmeere sind für die ökologische Balance des Planeten wichtig. Menschliches Handeln bewirkt heftige Veränderungen, welche die Wissenschaft noch längst nicht vollständig durchschaut. Umweltschützer fordern deshalb ein internationales Regelwerk zum Schutz der Hochsee, wie Greenpeace-Experte Thilo Maack im Interview mit Hans Dembowski von E+Z/D+C erläutert.

Von Thilo Maack

Weshalb machen sich Umweltschützer Sorgen über die Hochsee?
Das hat vielfältige Gründe. Dazu gehört zum Beispiel die extreme Zerstörung durch die bodenberührende Fischerei. Die Hochsee ist im Schnitt zwar 3,5 Kilometer tief, aber anderthalb oder zwei Kilometer unter dem Meeresspiegel pflügen Netze heute über Tiefseeberge. Sie reißen alles mit, was sich ihnen in den Weg stellt und vernichten einzigartige Ökosysteme, deren Artenvielfalt und Komplexität wir bis heute noch gar nicht genau kennen. Gejagt werden dabei Fischarten, deren Biologie ebenfalls kaum erforscht ist. Das heißt, wir wissen gar nicht, wie schnell sich diese Arten zum Beispiel regenerieren und wann die Überfischung beginnt.

Welche anderen Probleme sehen Sie?
Die Belastung mit Öl ist gravierend. Die Rohstoffförderung in großer Tiefe ist extrem risikoreich, wie beispielsweise der Unfall der BP-Bohrinsel Deepwater Horizon 2010 im Golf von Mexiko gezeigt hat. Weltweit stehen mehrere Tausend Ölförderplattformen im Meer, teilweise mit veralteter Technologie und schlechten Umweltstandards. Katastrophen wie im Golf von Mexiko sind jederzeit vor der westafrikanischen Küste und anderswo möglich. Wir wissen zudem auch gar nicht, welche Folgen der Abbau von wertvollen Metallen für das Tiefseeökosystem hat. Manganknollen werden beispielsweise aus der Tiefsee geholt, weil die Elektronikindustrie diesen Rohstoff braucht. Hinzu kommt, dass die globale Erwärmung sich auch auf das Meer auswirken wird, und wiederum bleibt offen, welche Folgen das genau haben wird. Klar ist, dass sich der Zustand unserer Meere innerhalb der nächsten Jahrzehnte dramatisch verändern wird, der Anstieg der Durchschnittstemperatur oder des Meeresspiegels sowie die Versauerung seien hier als Beispiele genannt.

Spüren wir denn die Konsequenzen dieser ökologischen Schäden?
Davon können Sie ausgehen. Bedenken Sie nur, dass etwa die Hälfte des Luftsauerstoffs von Meeresalgen produziert wird. Die Schreckensmeldungen, die wir täglich über Versauerung, schrumpfende Fischbestände, Müllbelastung und so weiter bekommen, zeigen eindeutig, dass es um eine Krise der Meere von historischer Dimension geht. So etwas hat die Menschheit noch nie erlebt. Es steht auch fest, dass die Entwicklungsländer besonders betroffen sind. Arme Menschen hängen stärker als Wohlhabende von den natürlichen Ressourcen ab, die sie in ihrer Umgebung vorfinden, und sie sind Notlagen schutzlos ausgeliefert.

Welche Art von Biotop ist denn besonders interessant?
Die Wissenschaft kann sehr viele wichtige Fragen noch nicht beantworten. Besonders anschaulich ist das vermutlich bei schwarzen und weißen Rauchern. Es handelt sich um hydrothermale Quellen am Boden der Tiefsee. Um sie herum bilden sich ganz besondere Lebensräume mit seltenen Arten, wobei im Detail noch unbekannt ist, wie diese Arten dort hinkommen und welche ökologische Bedeutung sie haben. Diese Tiefseeraucher sind nur ein paar Jahrzehnte lang aktiv. Wir wissen aber auch, dass schwarze Raucher oft in der Nähe von Erzvorkommen zu finden sind. Die Metallförderung in diesen Bereichen könnte also die ökologische Balance empfindlich stören.

Da die biologische Vielfalt und die ökologischen Wechselwirkungen noch weitgehend unerforscht sind, kann es aber doch auch sein, dass die Hochseeprobleme, die Sie beschreiben, für die Menschheit gar nicht so schlimm sind.
Es stimmt, dass wir nicht jedes Biotop und jede Wechselwirkung kennen, aber es ist sehr wohl bekannt, dass alles mit allem zusammenhängt. Wenn am Boden des Golfs von Mexiko Öl ausläuft, liegen bald darauf in weiter Ferne tote Delfine an den Stränden. Es wäre gut, genauer Bescheid zu wissen. Wenn bei einer Umweltverträglichkeitsprüfung herauskäme, dass bestimmte Verhaltensweisen unproblematisch sind, wäre dagegen auch nichts einzuwenden. Aber solche Prüfungen finden gar nicht statt. Wir wissen gar nicht, was wir da tun und worauf wir uns einlassen. Wir kennen und verstehen die Risiken nicht. Es kann sein, dass manche Gefahren gar nicht so groß sind, wie wir zurzeit annehmen. Dafür sind aber andere vermutlich größer, als wir denken. Um das kompetent beurteilen zu können, müssten wir viel mehr wissen.

Wer ist für den Schutz der Hohen See verantwortlich?
In den 90er Jahren trat die UN-Seerechtskonvention UNCLOS (UN Convention on the Law of the Sea) in Kraft. Sie regelt, welche Bestimmungen außerhalb der nationalen Hoheitsgebiete gelten, die jeweils 200 Seemeilen vor der Küste beginnen. Dieser Bereich macht rund 60 Prozent der gesamten Meeresoberfläche aus und wird als die Hohe See bezeichnet, nationale Gerichte sind hier nicht zuständig. Offensichtlich reicht UNCLOS aber nicht – unter anderem, weil dieses multilaterale System konsensbasiert und entsprechend schwerfällig ist. Wichtige Staaten, allen voran die USA, machen bei UNCLOS auch gar nicht mit. Deshalb fordern Greenpeace und andere Umweltorganisationen schon seit vielen Jahren neue Schutzmechanismen für die Hohe See. Leider hat die große UN-Umweltkonferenz Rio+20 im Juni dieses Thema nicht so weit vorangebracht, wie es nötig gewesen wäre.

Aber im Abschlussdokument wird der Hochseeschutz doch ausdrücklich erwähnt.
Das schon, aber Rio+20 hätte mehr tun und den Prozess für ein Implementing Agreement auf den Weg bringen müssen. Das wäre die nötige Grundlage für verbindliche Umweltverträglichkeitsprüfungen für alle extraktiven Aktivitäten oder auch die Ausweisung von Schutzgebieten auf der Hohen See. Der nötige Schwung fehlt, damit konkrete Verhandlungen in Gang kommen und das Thema in absehbarer Zeit von der UN-Generalversammlung behandelt wird. Rio+20 hat ihn jedenfalls nicht ausgelöst. Wir hoffen jetzt, dass Bundesumweltminister Peter Altmaier klugen Worten auch Taten folgen lässt. Er hat kürzlich angekündigt, er wolle mit einer Art Koalition der Willigen ein Implementing Agreement anstreben. Wenn es ihm gelingt, solch ein Bündnis zu schmieden und anzuführen, wäre das eine verdienstvolle Initiative. Auch von Bundeskanzlerin Angela Merkel ist bekannt, dass sie sich Sorgen um die Meere macht. Die Frage ist aber, ob diese Politiker dem Thema auch die entsprechende Priorität geben.

Wer richtet denn die größten Hochseeschäden an?
Es geht vor allem um Unternehmen aus Industrieländern, die über die entsprechende Technologie verfügen. Aufwendig ausgerüstete Fischtrawler stammen aus EU-Ländern wie Spanien oder Frankreich. Auch die USA, Australien, Neuseeland und Japan sind wichtig. Unternehmen aus Industrieländern spielen selbstverständlich auch bei der technisch anspruchsvollen Rohstoffförderung am Meeresgrund die Führungsrolle. Auch Deutschland hat sich beispielsweise Claims am Meeresboden im Pazifik gesichert. Interessant ist, dass diese Nationen zu Hause Wirtschaftszweige längst ökologischen Regeln unterwerfen. Es gibt also keinen plausiblen Grund, warum sie nicht auch auf der Hohen See Ökostandards akzeptieren sollten.

Governance

Um die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen, ist gute Regierungsführung nötig – von der lokalen bis zur globalen Ebene.