Klimawandel

Ungewohnte arktische Wärme

Das Eis im Arktischen Ozean schwindet im Rekordtempo. Die Zeichen sind eindeutig. Im Sommer 2012 beschleunigten überdurchschnittlich hohe Temperaturen das jährliche Aufbrechen der Eisdecke so stark wie nie zuvor seit Beginn der Satellitenbeobachtung der Polarkappe vor 30 Jahren.

Von Mathieu Régnier

Die rasante Veränderung der Eisdecke hat vielseitige Folgen. Einige bewerten die Schmelze positiv, da sie neue Transportwege und damit neue Per­spektiven für den Welthandel schaffe. Andere ermahnen dazu, dieses bislang unerforschte Gebiet vor der Erschließung von Rohstoffen zu schützen.

Viele betrachten die jüngsten Satellitenaufnahmen mit großer Sorge. Dennoch sind engagierte Umweltschützer dankbar für den klaren Beweis, in welchem Tempo menschliches Handeln das Klima unseres Planeten ändert. Schon unsere Kinder werden den Tag erleben, an dem im Sommer kein Eis mehr die Arktis bedeckt. Dies könnte bereits im Jahr 2037 eintreten, so die Geophysical Research Letters, mit großer Gewissheit aber bis Mitte des Jahrhunderts.

Die Temperaturanstiege in der Arktis liegen unter anderem am so genannten Albedo-Effekt: Dunkle Oberflächen absorbieren mehr Wärme als helle Oberflächen; Land und Wasser speichern Sonnenwärme, während Eis und Schnee diese reflektieren. Hauptursache sind aber die Nutzung fossiler Brennstoffe und daraus entstehende Treibhausgase.

Die Weichen für eine geopolitische Bestandsaufnahme zwischen den arktischen Anrainerstaaten Kanada, Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Russland, Schweden und den USA scheinen gestellt. Die acht Länder kooperieren seit 1996 unter Federführung des Arktischen Rates, eines zwischenstaatlichen Forums – könnten sich nun jedoch darüber streiten, welche Mitglieder von der großen Schmelze profitieren sollen.

In der Arktis lagern Metalle wie Gold, Eisen und Zink sowie potenziell bedeutende Öl- und Gasreserven. Die Erschließung dieser Ressourcen hätte enorme globale Folgen, zum Beispiel einen Verfall der Rohstoffpreise. Vom Export dieser Güter abhängige Entwicklungsländer müssen sich auf einen härteren Wettbewerb einstellen.

Laut einer Studie des United States Geological Survey (USGS) von 2008 lagert in der Arktis rund ein Fünftel aller unentdeckten abbaubaren Öl- und Gasvorkommen der Erde. Es ist paradox: Je mehr fossile Energieträger verbrannt werden, desto einfacher scheint es, noch größere Mengen davon zu fördern. Daraus ergibt sich ein Teufelskreis. Russland umwirbt bereits Investoren für die Rohstofferschließung auf hoher See. „Besonders in der Arktis sind Offshore-Felder ohne Übertreibung unsere strategische Reserve für das 21. Jahrhundert“, sagte der russische Präsident Vladimir Putin in diesem Jahr.

Obwohl arktische Vorkommen theoretisch sofort ausgebeutet werden können, heißt das keineswegs, dass Geschäfte dort lukrativ wären. Die Wetterumstände sind extrem, und es können noch Jahrzehnte vergehen, bis die Ausbeutung von Ressourcen überhaupt beginnt. Im Herbst 2012 plädierte der französische Erdölkonzern Total als erstes Großunternehmen gegen Bohrungen in der Arktis; seine Manager sprachen von Umweltrisiken.

Zivilgesellschaftliche Gruppen weisen schon lang darauf hin, dass das arktische Ökosystem selbst kleinere Ölseuchen kaum verkraften kann. Die Umweltorganisation WWF ist der Überzeugung, dass bei dortigen Unfällen mit Öl keine Eindämmung oder Reinigung möglich wäre. Austretende Gase hingegen seien einfacher zu bewältigen. Viele Experten gehen aber davon aus, dass natürliche Ressourcen in der Arktis in großem Stil ausgebeutet werden werden.

Neue Seewege

Die frei werdende Nord-Ost-Passage nahe Russland und die Nord-West-Passage bei Kanada zu nutzen, ist für die Schifffahrt sehr attraktiv. Seewege durch die Arktis bieten eine Alternative zum Suezkanal und könnten den Containertransport vergünstigen. Die Entfernungen zwischen europäischen und chinesischen Häfen könnten um 15 bis 20 Prozent kürzer werden; das würde viel Zeit und Schiffsdiesel sparen.

Derzeit ist der Einsatz großer Schiffe auf diesen neuen Routen aber noch bloße Theorie. Mit oder ohne Eis bleibt die Arktische See gefährlich; die potenziell hohen Versicherungskosten könnten die meisten Verkehrsvorteile zunichtemachen. Gleichwohl verkehren in Sommermonaten schon kleinere Schiffe wie Schleppnetzfischer in der Region.

Eine weitere globale Begleiterscheinung der großen Schmelze ist der Anstieg der Meeresspiegel. Tauwasser aus der Arktis hebt die Pegel zwar nicht, denn schwimmende Eisberge brauchen laut Archimedischem Prinzip ebenfalls Volumen. Allerdings führt die Erwärmung der Region zur Schmelze von Festlandeis auf Grönland – mit schwerwiegenden Folgen für die Meeresspiegel weltweit. Das Abtauen dieses Eisschilds dürfte am meisten zum Anstieg der Meeresspiegel beitragen – und zwar viel schneller als bislang angenommen.

Katastrophale Auswirkungen drohen vor allem für Küsten- und Inselbewohner:
– Klimatisch bedingte Migration wird steigen und Konflikte schüren,
– Wasservorräte drohen zu versalzen, und
– Überflutungen werden häufiger und dürften der Landwirtschaft schaden.
Laut UN Habitat wohnen 13 Prozent der Weltbevölkerung an Küsten, die weniger als zehn Meter über dem Meeresspiegel liegen. Schon vorab sind Maßnahmen zur Vorsorge und Anpassung nötig (siehe Kasten auf der nächsten Seite).

Ökologische Vielfalt

Im Jahr 2007 schilderte die Journalistin Dominique Forget in dem Buch „Perdre le Nord?“ (Den Norden verlieren?) ökologische, wirtschaftliche, rechtliche, politische und menschliche Dimensionen der großen Schmelze. Neuere Daten haben nichts an ihrer Analyse geändert. Was Biodiversität angeht, bedeutet „wärmer oftmals reicher“, betont die Wissenschaftsjournalistin.

Ihr zufolge prognostizieren viele Studien regionale Anstiege der Artenvielfalt. Eine mäßige Erwärmung der Polarmeere könnte auch die Vermehrung der Fischbestände fördern, wovon der Fischfang profitieren würde. Tatsächlich beginnen einige Arten des pazifischen Lachses in die Arktis vorzudringen. Forget hat Fischerdörfer in Kanadas hohem Norden besucht. Dort, so schreibt sie, sei der Wandel der Ökosysteme aus kommerzieller Sicht durchaus zu begrüßen.

Es gibt jedoch keine Garantie dafür, dass solcher wirtschaftliche Nutzen von Dauer sein wird. Um sich zu entwickeln, brauchen Ökosysteme Jahrtausende. Ihre Artenvielfalt hat mehrere Komponenten und hängt ab vom komplexen Gleichgewicht vieler Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen. Kurzfristige Trends erlauben krine langfristige Prognose.

Peter Bridgewater, der ehemalige Geschäftsführer der multilateralen Ramsar Convention on Wetlands, warnt, dass „unerwünschte invasive Arten in wenigen Jahrzehnten zu Schlüsselarten werden könnten“. Er räumt ein, dass neue Ökosysteme, die durch begrenzte menschliche Eingriffe entstehen, wertvoll sein können. Was in der Arktis passiere, habe aber „weit größeres Ausmaß haben“.

Weiterhin unterstreicht Bridgewater mögliche Auswirkungen auf die Meeresströmungen. Sie könnten „eine Vielzahl unerwünschter Folgen, fernab der Arktis“ auslösen.

Die Schmelze zu stoppen, hält Bridgewater für ­nahezu unmöglich, offen sei lediglich, in welchem Maß sie zu bremsen sei. „Wir müssen es versuchen, ohne die Fassung zu verlieren“, sagt er. Selbst das erfordert allerdings vorausschauende Planung, politische Führung und internationale Koordination.

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