Frauen in Afghanistan
„Selbst diese rote Linie existiert nicht mehr“
Frau Çalışkan, Sie haben viele Jahre zu Frauenrechten gearbeitet und unter anderem 2010 in Afghanistan gelebt. Wie haben Sie die Situation dort erlebt?
Damals war das Petersberger Abkommen von 2001 in Kraft, das den politischen Übergang nach dem Sturz der ersten Talibanherrschaft regelte. Es gab positive Entwicklungen für die Frauenrechte, die Schulen für Mädchen öffneten wieder. Diese Erfolge haben dazu geführt, dass wir Feministinnen uns voller Engagement in die Arbeit gestürzt haben. Leider wiederholt sich die Geschichte und eine weitere Generation afghanischer Frauen sieht sich heute einem Talibanregime gegenüber – und organisiert erneut Untergrundschulen für Mädchen.
Wie hat die Frauenrechtsbewegung die Zeit der neuen Freiheiten genutzt?
Die erste demokratische Regierung von Afghanistan musste unter dem Druck der Vereinten Nationen (UN) viele internationale Abkommen ratifizieren, darunter die UN-Frauenrechtskonvention CEDAW. Mindestens 25 Prozent der Sitze im Parlament mussten nun mit Frauen besetzt sein. Damit frauenpolitische Inhalte in der Politik ankamen, haben zivilgesellschaftliche Organisationen (NGOs) kluge Kampagnen ins Leben gerufen. Meine Kolleginnen bei medica mondiale Afghanistan etwa gingen mit einem Forderungskatalog zu den Kandidat*innen, den diese in ihr Wahlprogramm aufnehmen sollten. Das Gegenversprechen: Sie würden dafür hunderte Wähler*innen aus dem jeweiligen Clan der Frauenrechtlerinnen bekommen. Diese Idee wurde später mit großer Begeisterung von Medica-mondiale-Kolleginnen im Kosovo aufgenommen: Sie konnten so die vorherrschende Clanstruktur geschickt für frauenrechtliche Belange nutzen. Ich kannte das Vorgehen bereits aus meiner eigenen muslimischen Gastarbeiterfamilie. Wo immer wir konnten, nutzten wir die sozialen und religiösen Vorstellungen, um uns eigene Rechte und Freiheiten zu erkämpfen.
In dieser Zeit hat sich in Afghanistan viel bewegt. Was haben Frauenrechtlerinnen konkret erreichen können?
Es wurden Gesetzgebungen zum Schutz vor Gewalt und Diskriminierung vorangebracht. Die Initiativen wurden von einflussreichen afghanischen und internationalen Feministinnen getragen, die oft vor Ort in großen Institutionen wie den UN, der Europäischen Union (EU) und nationalen Vertretungen arbeiteten. Sie bildeten starke Allianzen. Der gemeinsame Druck afghanischer und internationaler Frauenrechtlerinnen ermöglichte zum Beispiel das Gesetz zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen von 2009. Weitere Erfolge gab es in der Gesundheitsversorgung. Die Müttersterblichkeit in Afghanistan ist die zweithöchste weltweit. Als ich 2003 bei medica mondiale anfing, war ich beeindruckt von den afghanischen Ärztinnen und einstigen Taliban-Ggegnerinnen, die nach dem Fall der Taliban mit uns nach Afghanistan zurückgingen, um an den Krankenhäusern ihre Expertise zur Verfügung zu stellen. Sie schulten das medizinische Personal darin, geschlechtsspezifische Traumatisierung zu erkennen. Später bauten sie ein Dokumentationssystem zu Menschenrechtsverletzungen bei Krankenhaus-Ppatientinnen auf. Diese Daten nutzte ich, um politisch Druck zu machen, und schickte sie an die UN-Sonderberichterstatterin für Gewalt an Frauen. Doch die Projekte haben noch viel mehr bewirkt, als in den Evaluierungen erfasst wurde.
Worauf genau beziehen Sie sich, was haben die internationalen Projekte noch bewirkt?
Die gemeinsame Arbeit für Frauenrechte hat uns alle innerlich verändert: Ich habe gesehen, wie stark Frauen in den schrecklichsten Lebensumständen sein können und wie geschickt sie im Angesicht von Hardlinern in den Ministerien, Familien, Militärs und Gefängnissen verhandeln. Sie brauchten nur Solidarität und Unterstützung von außen, um ihre Macht zu entfalten. Auch der Alltag meiner afghanischen Kolleginnen veränderte sich. Durch ihre Arbeit bei internationalen und afghanischen Nichtregierungsorganisationen, bei den UN oder bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) verdienten sie ihr eigenes Geld und konnten zu Hause mitentscheiden. Sie fuhren allein Auto und gingen auf Dienstreisen, manche studierten parallel zur Arbeit. Wenn der Ehepartner dienstlich unterwegs war, konnten sie zu Hause übernachten und mussten nicht zur Schwiegermutter ziehen. Einige unserer Anwältinnen kostete es Überwindung, Mandantinnen vor Gericht zu verteidigen, die wegen angeblichen Ehebruchs mit ihren Kindern verhaftet wurden. Die Gesellschaft hielt Angeklagte per se für schlechte Menschen und ihre Verteidiger*innen gleich mit. Doch die Sichtweisen änderten sich.
Und dann zogen sich die internationalen Truppen aus Afghanistan zurück.
Die Frauen verloren ihre Luft zum Atmen am 15. August 2021, dem Tag, an dem sie zurück an Heim und Herd verbannt wurden. Wenn ich heute auf die 20 Jahre internationale Präsenz in Afghanistan zurückschaue, sehe ich einen internationalen Vertrauensbruch gegenüber den Afghan*innen. Der Schlussbericht der Enquetekommission zum Afghanistan-Einsatz der Bundesregierung bezeichnet die Erfolge bei den Frauenrechten und die Entstehung einer Zivilgesellschaft als „Teilerfolge“, selbst wenn sie den gesamten Afghanistan-Einsatz als gescheitert erklärten.
Seit der Machtübernahme der Taliban 2021 sind die Rechte von Frauen weiter massiv eingeschränkt worden. Wie versuchen Frauen im Land heute dennoch, sich Freiräume zu schaffen oder gegen die Situation zu protestieren?
Aktivistinnen wehren sich heute unter Einsatz ihres Lebens gegen die frauenverachtenden Gesetze der Taliban. Angesichts der Verbannung von Frauen aus dem öffentlichen Raum und dem Arbeitsmarkt ist es gut, dass es inzwischen soziale Medien gibt. Dort teilen sie Forderungen, informieren über Menschenrechtsverletzungen und mobilisieren Unterstützung aus dem Ausland. Online-Plattformen bieten einen gewissen Schutz und ermöglichen es, das Geschehen in Afghanistan trotz der Zugangsbeschränkungen international bekannt zu machen und zu dokumentieren, um später Täter vor nationale Gerichte und den Internationalen Gerichtshof bringen zu können. Aber sie wehren sich auch gegen die Ignoranz westlicher Entscheidungsträger*innen, die vor ein paar Jahren noch Militär mobilisierten, sich für Menschen-, Frauen- und Mädchenrechte einsetzten – und nun stumm sind und wegschauen. Bei den Regierungsverhandlungen mit den Taliban in Doha war Bildung für Mädchen die einzige rote Linie für die westlichen Verhandler, darunter auch die Deutschen. Und selbst diese rote Linie existiert nun nicht mehr.
Wie gehen Hilfsorganisationen und Aktivistinnen in dieser Situation vor?
Im Dezember 2024 wurde der jüngste Versuch der Taliban bekannt, Aktivitäten von NGOs einzuschränken. Da erfuhr der UN-Sicherheitsrat, dass immer mehr afghanische humanitäre Helferinnen an ihrer Tätigkeit gehindert werden. Dabei ist ihre Arbeit in der aktuellen humanitären Krise überlebenswichtig. Es gibt aber einen winzigen Lichtblick: die Zerstrittenheit unter den Taliban, was die Auslegung des Islam angeht. Die einen lehnen Bildung für Mädchen ab 12 Jahren ab und bestehen darauf, dass sie zu Hause bleiben, heiraten, Hausfrau und Mutter werden. Die anderen würden sie sogar studieren lassen, aber getrennt von Männern. Beide Gruppen beziehen sich auf den Islam. An diese Widersprüche anzuknüpfen ist gerade die einzige Möglichkeit für internationale Hilfsorganisationen und lokale Aktivist*innen, Rechte für Frauen und Mädchen auszuhandeln.
Was braucht es, damit die Zivilgesellschaft diese Arbeit weiter leisten kann?
Grundsätzlich brauchen wir dafür seit Jahren mehr Geld für feministische Bewegungen, für mehr UN-Friedensverhandlerinnen und BIPOC-Diplomat*innen und einen ernst gemeinten Kampf gegen Armut mit der Agenda 2030. Wir brauchen mehr Gender-Mainstreaming und Repräsentanz von Frauen im Sicherheitssektor, darunter bei den UN-Peace-Keeping-Einsätzen und den militärisch-zivilen Missionen der Europäischen Union. Wir brauchen eine Ahndung von sexualisierter Gewalt in solchen Einsätzen und ein Flüchtlingsrecht, welches Frauen und Kinder vor geschlechtsspezifischer Gewalt schützt. Das Bewusstsein ist längst da, aber es scheitert am Veränderungsunwillen der Institutionen und dem patriarchal-nationalistischen Backlash in vielen Ländern. Wo es hinführt, wenn man seine Ziele nicht konsequent umsetzt, konnte man an der „Frauen – Leben – Freiheit“-Bewegung in Iran beobachten.
Nach dem Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini in Polizeigewahrsam im Jahr 2022 gingen in Iran Tausende Menschen auf die Straßen. Was hätte da aus deutscher Sicht anders laufen müssen?
Trotz ihrer proklamierten feministischen Außenpolitik hat die deutsche Regierung die mutige iranische Zivilgesellschaft im Stich gelassen. Zur aktuellen Hinrichtungswelle hört man aus Deutschland nichts. Das Hauptargument für Realpolitik sind immer wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interessen – in diesem Fall die vielfach bemühte regionale Stabilität. Diese kann man aber nicht erreichen, wenn man zugleich massive Menschenrechtsverletzungen billigt. Durch wirtschaftlich-militärische Unterstützung stattet man die Regierungen mit einer unglaublichen Macht über das Weltgeschehen aus und sorgt damit letztlich für Instabilität und bewaffnete Konflikte, wie man in Iran, Syrien, der Türkei, Israel oder Russland sehen kann.
Lassen Sie uns einen Blick in die Zukunft werfen: 2025 jährt sich die Pekinger Erklärung zur Gleichstellung von Frauen und Männern zum 30. Mal, und die UN-Resolution 1325 zu Frauen, Frieden und Sicherheit wird 25 Jahre alt. Wie können wir das Jubiläumsjahr für Frauenrechte nutzen?
Gerade in Zeiten anti-demokratischer Politik müssen wir laut und deutlich den politischen Willen und das nötige Geld für nachhaltige Entwicklung, positiven Frieden, Geschlechter- und Klimagerechtigkeit einfordern. Wir müssen Entscheidungsträger*innen damit konfrontieren, dass weder der Zustand der Welt noch die finanziellen Beiträge ausreichen, um Frauen zu unterstützen. Die Polykrisen können wir aber nur mit Frauenpower meistern.
Selmin Çalışkan ist Menschenrechtsexpertin, Strategieberaterin und Executive Coach und hat zuletzt im Winter 2025 zu E+Z beigetragen. Zuvor war sie Direktorin für Institutionelle Beziehungen der Open Society Foundations Berlin, Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland und arbeitete für medica mondiale und die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ), unter anderem in Afghanistan.
selmin.caliskan@posteo.de