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Warum und wie wir Wachstum hinterfragen sollten

Die Machbarkeit und Notwendigkeit ständigen Wirtschaftswachstums werden zunehmend infrage gestellt, vor allem im Kontext des Klimawandels und der aktuellen globalen Krisen. Degrowth-Ansätze, die Ressourcenverbrauch und -produktion reicher Länder verringern wollen, müssen aber Länder mit geringen Einkommen einbeziehen, um neokoloniale Strukturen zu verhindern und mehr Gerechtigkeit in globalen Systemen zu schaffen.
Wohin wird sich die Welt entwickeln, wenn die Wirtschaft weiter wächst? picture alliance / newscom / John Angelillo Wohin wird sich die Welt entwickeln, wenn die Wirtschaft weiter wächst?

Die Frage, ob die Wirtschaft kontinuierlich wachsen sollte, ist aktueller denn je. Zum einen ist umstritten, ob unendliches Wachstum überhaupt möglich ist. Bereits der Bericht „The Limits to Growth“ des Club of Rome aus dem Jahr 1972 betonte die Unmöglichkeit fortlaufenden Wachstums – eine Erkenntnis, die angesichts der Klimakrise noch drängender ist. Zum anderen wird hinterfragt, ob Wirtschaftswachstum überhaupt notwendig für Wohlstand ist. Unterschiedliche Ansichten zu diesen Themen führen zu gegensätzlichen Konzepten.

Grünes Wachstum setzt darauf, dass Volkswirtschaften weiterhin wachsen können und gleichzeitig ihre Umweltbelastung reduzieren. Dies wäre möglich, wenn Wirtschaftswachstum zu technologischen Verbesserungen führt, die Produktion und Konsum umweltfreundlicher machen. Das Konzept betont auch, dass Wachstum Arbeitsplätze, Chancen und Ressourcen für Sozialsysteme schafft und so den Wohlstand erhält oder steigert.

Postwachstum stellt eine entgegengesetzte Sichtweise dar. Das Konzept ist ein Überbegriff für Ansätze, die angesichts der Unmöglichkeit eines unendlichen Wirtschaftswachstums auf einem endlichen Planeten über das Ziel der Steigerung des BIP hinausgehen wollen. Studien zeigen, dass nur wenige Länder absolute Emissionsreduktionen erreicht haben – und deren Tempo nicht annähernd so hoch ist, wie es zur Erreichung der Klimaziele erforderlich wäre. Zudem führt Wirtschaftswachstum besonders ab einem bestimmten BIP-Level nicht zwangsläufig zu mehr Wohlstand.

Der Postwachstumsansatz wird immer populärer. Immer mehr Länder und Institutionen nutzen alternative Indikatoren wie den Human Development Index (HDI). Bei der Postwachstumsstrategie geht es jedoch nicht nur um Indikatoren. Auf struktureller Ebene schlägt das Konzept vor, unsere Volkswirtschaften und Wohlfahrtssysteme weniger abhängig vom Wirtschaftswachstum zu machen. Teil des Ansatzes sind Theorien wie die Steady-State- und Doughnut-Ökonomie sowie die Suffizienz- und Wohlfahrtsökonomie.

Degrowth ist wohl der populärste Postwachstumsansatz, der zunehmend erforscht und diskutiert wird. Der Wirtschaftsethnologe Jason Hickel, einer der prominentesten Vertreter der wachstumskritischen Bewegung, definiert Degrowth als „eine geplante Reduktion von Energie- und Ressourcennutzung, um das ökonomische Gleichgewicht mit der Umwelt so wiederherzustellen, dass Ungleichheit verringert und das menschliche Wohlbefinden verbessert wird“.

Es ist wichtig, einige Punkte in Bezug auf dieses Konzept zu klären:

  • Es geht um den Rückgang von Materialflüssen, nicht explizit um das BIP.
  • Degrowth zielt nicht auf Rezession, sondern eine geplante Reduktion von Konsum und Produktion ab.
  • Ziel ist ein gutes Leben für alle bei weniger Ressourcenverbrauch. Umverteilung, Gerechtigkeit und Demokratie spielen zentrale Rollen.
  • Überproduktion und -konsum und damit das Wirtschaftswachstum zu beenden, bedeutet nicht, dass Länder mit niedrigen Einkommen, die nicht im Übermaß konsumieren und die Infrastruktur und Ressourcen benötigen, aufhören sollten zu wachsen.

Gleichzeitig wird Degrowth wegen mangelnder konzeptioneller Kohärenz und fehlender Auseinandersetzung mit wirtschaftspolitischen Fragen kritisiert. Ein zentrales Problem ist dabei die Einbindung von Ländern mit niedrigen Einkommen, auch weil Degrowth-Forschung meist aus Industrieländern kommt. Degrowth könnte für Länder mit niedrigen Einkommen sowohl Synergieeffekte als auch Herausforderungen mit sich bringen, da wir in einem globalen und vernetzten Wirtschaftssystem leben. Positiv ist, dass ein geringerer Verbrauch in Ländern mit hohen Einkommen es ärmeren Ländern ermöglicht, mehr zu konsumieren. Andererseits könnte sich ein geringerer Verbrauch in den reichen Ländern auch negativ auf die Wirtschaft der Länder mit niedrigeren Einkommen auswirken, die von Exporten in Industrieländer abhängig sind.

Um dieses Dilemma zu lösen, müssen auch noch weitere kritische Debatten berücksichtigt werden. Die potenziellen negativen wirtschaftlichen Auswirkungen von Degrowth auf Länder mit niedrigen Einkommen resultieren aus ungleichem Austausch und kolonialen Hinterlassenschaften. Die Dependenztheorie argumentiert, dass die grundlegenden Strukturen der Kolonialzeit bis heute durch „ungleichen Austausch“ im internationalen Handel bestehen. Reiche Länder nutzen demnach ihre Position in globalen Systemen aus, um die Preise in ärmeren Ländern zu drücken. Dadurch erwerben wohlhabendere Länder einerseits günstige Waren aus Ländern mit niedrigen Einkommen, während Letztere mehr exportieren müssen, um die teureren Importe bezahlen zu können. Der Washington Consensus und Strukturanpassungsmaßnahmen sind Beispiele für solche Dynamiken, da sie ärmere Länder dazu gedrängt haben, den Fokus auf Exporte zu legen.

Es ist daher entscheidend, Ungerechtigkeiten im globalen Wirtschaftssystem anzugehen und koloniale sowie Post-Development-Perspektiven eng mit der Degrowth-Debatte zu verknüpfen. Länder mit niedrigen Einkommen hier nicht zu berücksichtigen, würde bedeuten, dass ihnen auf neokoloniale Weise eine Agenda aufgezwungen wird – sei es, indem man dafür plädiert, dass sie denselben Entwicklungspfad wie die Industrieländer einschlagen, oder indem ihnen die Freiheit genommen wird, ihre Entwicklungsentscheidungen vollumfänglich selbst zu treffen. 

Kurz- und langfristige Ziele

Degrowth setzt voraus, dass globale Gerechtigkeit, Dekolonisierung und ein ökologisch gerechter Austausch auch durch die Reform globaler Institutionen und ungleicher Regierungssysteme angegangen werden. Diese Anliegen sind nicht neu. Bereits 1974 forderten Länder mit niedrigen Einkommen in der „Erklärung über die Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung“ eine solche Ordnung basierend auf Gerechtigkeit, souveräner Gleichheit, Verflechtungen, gemeinsamen Interessen, Zusammenarbeit und Solidarität, um wirtschaftlichen Kolonialismus und Abhängigkeiten zu beseitigen. Viele dieser Forderungen wurden jedoch bis heute nicht umgesetzt. Es ist entscheidend, globale Systeme zu reformieren und vergangene Fehler zu vermeiden. In diesem Zusammenhang dürfen beispielsweise Schuldenerleichterungen nicht wieder in einer neuen Strukturanpassung münden.

Während solche Veränderungen Zeit brauchen, ist es wichtig, gleichzeitig dringend nötige Klimaschutzmaßnahmen voranzutreiben. Grünes Wachstum und Degrowth waren bisher zwei eher isolierte Forschungsbereiche mit unterschiedlichen ideologischen Vorstellungen. Sie gegeneinander auszuspielen, würde wirksame und notwendige Maßnahmen weiter hinauszögern. Es ist wichtig, hier eine gemeinsame Basis für den Klimaschutz zu finden, da beide Positionen umweltpolitische Ziele wie Investitionen in erneuerbare Energien oder Umweltsteuern teilen. Gleichzeitig ist entscheidend, dass Kompromisse ein Gleichgewicht zwischen der Notwendigkeit kurzfristiger Klimaschutzmaßnahmen und den erforderlichen längerfristigen strukturellen Veränderungen herstellen. Maßnahmen dürfen zugleich nicht im Sinne eines „grünen Kolonialismus“ vergangene Muster wiederholen.

Ein Lösungsvorschlag ist das „A-Growth“-Modell, da es einen Mittelweg darstellt, der bewusst nicht zwischen grünem Wachstum und Degrowth wählt. Sein Hauptanliegen ist die Ablehnung des BIP als Maßstab für Wohlstand. Diese ambivalente Haltung soll politischen Rückhalt für eine ehrgeizige Umwelt- und Sozialpolitik stärken, indem polarisierende Debatten um das BIP vermieden werden.

In einer Zeit der Polykrisen und wirtschaftlichen Anfälligkeit sind Visionen wie Degrowth und Postwachstum entscheidend, um sich eine andere Welt und eine bessere Zukunft vorzustellen, in der strukturelle Probleme bewältigt werden. Da solche Konzepte transformativ sind, müssen sie politische Unterstützung finden und Ängste vor neuen Wirtschaftssystemen abbauen. Während sich die Entwicklungsparadigmen von einem Fokus auf das BIP hin zu Fähigkeiten und Freiheiten verlagert haben, müssen sich solche Veränderungen in den globalen Systemen erst noch durchsetzen.

Daniele Malerba ist Senior Researcher am German Institute of Development and Sustainability (IDOS) mit Fokus auf sozial-ökologische Transformation und Just Transition. daniele.malerba@idos-research.de

Dieser Text wurde durch einen zweitägigen IDOS-Workshop zum Thema „Entwicklung jenseits des Wachstums“ im November 2025 angeregt.