Heutzutage

Heutzutage: Überholt

Die Landesregierung von Westbengalen hat vor einiger Zeit den Gebrauch von Fahrrädern auf 174 wichtigen Straßen Kolkatas (früher Kalkutta) verboten. Sie will den Verkehrsfluss beschleunigen. Internationale Fachleute warnen aber, dass ihr Schritt mehr Schaden als Nutzen stiftet. John Whitelegg, ein Stadtplanungsexperte der University of York, war schon öfters in Kolkata. Er urteilt: „Das Fahrradverbot ist eindeutig eine Entscheidung für eine schmutzige, ökologisch belastete und sozial ungerechte Zukunft.“ Er rät zu fahrradfreundlicher Politik.

Von Sandip Chattopadhyay
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Die Landesregierung argumentiert, diese überfüllte Megastadt habe einfach nicht genug Raum für alle Verkehrsmittel. Obendrein drosseln Radfahrer das Tempo des Autoverkehrs. Ohne sie werde der Verkehr sicherer und schneller.

Umweltschützer widersprechen. Sie weisen darauf hin, dass Radfahrer nichts zur dramatischen Luftverschmutzung beitragen, die Indiens Städte plagt. Down to Earth, die wichtigste Öko-Zeitschrift des Landes, urteilt: „Das Fahrradverbot in Kolkata ist absurd.“ Diese Metropole sei nämlich die einzige in Indien, in der mehr Wege mit dem Rad als mit dem Auto bewältigt werden. Angesichts der engen Straßen und der Tatsache, dass nur wenige Menschen sich PKWs leisten, sei das Fahrrad ein beliebtes Verkehrsmittel. Dem Magazin zufolge verursachen Autofahrer 71 Prozent aller Straßenunfälle, Fahrräder aber nur 1,5 Prozent.

Tatsächlich sind Radfahrer aber besonders gefährdet. In Delhi wurde kürzlich die Chefredakteurin von Down to Earth, Sunita Narain, die auch gelegentlich für E+Z/D+C schreibt (2012/04, S. 152 ff. und 2012/07-08, S. 296 f.), auf dem Fahrrad schwer verletzt, weil ein Auto sie anfuhr.

Die überwältigende Mehrheit der Menschen, die in indischen Städten per Rad unterwegs sind, sind natürlich keine Prominenten. Sie sind arm. In Kolkata sind Fahrradrikschas die wichtigste Einkommensquelle für Tausende von Menschen.  Wenn sie sich heute auf eine der Hauptverkehrsstraßen hinauswagen, drohen ihnen heftige Bußgelder. Die Polizei kassiert bis zu 300 Rupies, was für viele den Tagesverdienst übersteigt. 

Bizarr ist an der Geschichte, dass Ministerpräsidentin Mamata Banerjee, als sie 2011 gewählt wurde, versprach, sie werde Kolkata zum Abbild von London machen. Boris Johnson, der dortige Bürgermeister, wirbt aber bekanntlich fürs Radfahren.  Weitgereiste Bengalen wissen zudem, dass europäische Städte wie Kopenhagen, Amsterdam oder Münster noch viel fahrradfreundlicher sind als London.

Viele europäische Städte – München, Florenz und Bologna beispielsweise – haben Autos zudem aus ihren Innenstädten verbannt und Fußgängerzonen eingerichtet. Whitelegg, der Professor aus York, sagt, dass solche Zonen dem Einzelhandel, dem Tourismus und der städtischen Ökonomie insgesamt gut tun. Deshalb seien sie in Europa oder Nord Amerika auch nichts Ungewöhnliches.

Selbst in Indien ist das bekannt. Darjeeling, Westbengalens Urlaubsort in den Bergen, ist ein Beispiel dafür, welche Vorteile das Konzept bringt, sagt Whitelegg.  Die überholte Einschätzung der Landesregierung ist aber, dass in ihrer wichtigsten Stadt der Autoverkehr Vorrang haben muss.

UPDATE: Die Landesregierung von Westbengalen hat im Frühjahr 2014 viele Straßen in Kolkata wieder für den Fahrradverkehr geöffnet.

Sandip Chattopadhyay leitet das Chandradeep Solar Research Institute in Kolkata (ehemals Kalkutta). info@csrinstitute.co.in