Hintergrund

„Das Internet ist ein entscheidendes Werkzeug“

In vielen Ländern Osteuropas und Zentralasiens steht es schlecht um Meinungs- und Pressefreiheit. Dennoch gebe es Grund zur Hoffnung, sagt Hugh Williamson von Human Rights Watch, der mit E+Z/D+C über die Situation gesprochen hat. Dieses Interview wurde kurz vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine fertiggestellt.
In Kasachstan protestierten im Januar 2022 landesweit Menschen wegen steigender Spritpreise. picture alliance/dpa/TASS / Yerlan Dzhumayev In Kasachstan protestierten im Januar 2022 landesweit Menschen wegen steigender Spritpreise.

Sie beobachten für Human Rights Watch eine große, vielfältige Weltregion: von Osteuropa, Russland und die der Türkei bis nach Zentralasien. Welche Gemeinsamkeiten können Sie feststellen?
Mich fasziniert, welch enorme Kraft nach wie vor hinter dem Menschenrecht auf Meinungsfreiheit steckt, über alle Länder hinweg. Durch das Internet und Social Media ist seine Macht noch gewachsen. Vor allem autoritäre Regime fühlen sich davon bedroht, aber auch einige demokratisch gewählte Regierungen. Die Methoden, Meinungsfreiheit zu unterbinden, unterscheiden sich dabei je nach Regierungsform.

An welche Beispiele denken Sie?
In Kasachstan sperrte die Regierung im Januar mehrere Tage lang im ganzen Land das Internet. Hier hat ein autoritärer Staat auf friedliche Proteste mit einer drakonischen Strafe reagiert. Anders funktionieren zum Beispiel systematische Restriktionen gegenüber der Opposition in der Türkei. Unter dem Deckmantel der Terrorismusg-Gesetzgebung haben viele Parlamentsmitglieder, vor allem kurdischer Parteien, ihre Mandate verloren oder sitzen sogar in Haft. So wird ein Teil der Bevölkerung seines grundlegenden Rechts beraubt, sich politisch repräsentiert zu sehen. Und auch in Ungarn, einer Demokratie im Herzen Europas, strebt die Regierung beispielsweise an, die Medien zu kontrollieren. Die Behörden entzogen zum Beispiel einem der wenigen unabhängigen Radiosender, Klubrádió, die Lizenz wegen Bagatellen. All das zeigt: Wir müssen genau hinsehen, was passiert – sowohl in Europa als auch in anderen Teilen der Welt.

Blicken wir nach Russland, wo es für Oppositionelle lebensgefährlich ist. Alexej Nawalny, einer der lautesten Kritiker von Präsident Wladimir Putin, wurde mit einem Nervengift beinahe umgebracht. Derzeit ist er in einem Arbeitslager gefangen. Wie steht es um die Menschenrechte in dem Land?
Russland befindet sich in vielerlei Hinsicht auf einem Tiefpunkt, was den Schutz von Menschenrechten angeht. Nawalny ist ein prominentes Beispiel für das, was auch weniger Bekannten passiert. Journalisten verschwinden im Gefängnis. Die Regierung macht zivilgesellschaftliche Organisationen und unabhängige Medien dicht. Sie erlässt Gesetze, die das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlung unterhöhlen. Meinungsfreiheit ist eine Gefahr für Putins Macht, deshalb versucht er, sie so stark wie möglich zu kontrollieren. Für die wenigen unabhängigen Medien, die es in Russland noch gibt, wird das Leben täglich härter. Putin missbraucht sie sogar als diplomatische Werkzeuge. Jüngstes Beispiel dafür ist das Sendeverbot für die Deutsche Welle, den Auslandsrundfunk der Bundesrepublik Deutschland. Für den russischen Sender RT dagegen setzt sich Putins Regime im Ausland ein. Es geht ihm dabei aber nicht um Pressefreiheit, sondern um nationale Interessen.

Auch Russlands Nachbar Belarus war zuletzt in den Schlagzeilen. Seit der umstrittenen Wiederwahl des Machthabers Alexander Lukaschenko im August 2020 gab es dort massive Proteste (siehe Hans Dembowski auf www.dandc.eu). Oppositionelle wurden verhaftet, die Meinungsfreiheit erheblich beschnitten. Wie schätzen Sie die Entwicklung dort ein?
Die Entscheidung Lukaschenkos, die Proteste brutal niederzuschlagen, ist eine furchtbare aus Sicht der Menschenrechte. In der Folge ist die unabhängige Zivilgesellschaft in Belarus nahezu verschwunden. Die Möglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger, sich zu engagieren, wurden um Jahrzehnte zurückgeworfen. Russland sieht natürlich genau hin. Putin befürchtet, dass solch öffentliche Proteste eines Tages auch in seinem Land passieren könnten – auch deshalb unterstützt er Lukaschenko bereitwillig.

Aus manchen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken sind Nachrichten vergleichsweise rar. Könnten Sie uns bitte einen Überblick über die Lage in Zentralasien geben?
Das ist eine komplexe Region (siehe meinen Artikel auf www.dandc.eu). Turkmenistan sticht heraus als ein totalitärer Staat, der absolut keine Toleranz zeigt, was Meinungsfreiheit und unabhängige Medien angeht. Das Internet ist dort stark zensiert. Es ist verboten, zu Hause geschützte Netzwerkverbindungen zu verwenden. Das Land ist so abgeschottet, dass kaum Informationen über die Lage der Menschenrechte nach draußen dringen. Auch in Tadschikistan werden regelmäßig Webseiten abgeschaltet. Die Regierungen von Usbekistan und Kasachstan sind zumindest auf dem Papier offener für Meinungsfreiheit. Dennoch übt beispielsweise Kasachstan starke Kontrolle auf unabhängige Medien aus. Und erst vergangene Woche hat Human Rights Watch den Fall eines muslimischen Bloggers aus Usbekistan dokumentiert, der zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt wurde – nur wegen eines Facebook-Posts. Das passt nicht zu einem wirklich offenen Staat. Das einzige Land in Zentralasien mit nennenswertem investigativen Journalismus ist Kirgistan. Das ist wichtig und bedarf weiterer Förderung.

In welche Richtung entwickelt sich die Situation in Zentralasien momentan?
Sie verschlechtert sich in mancherlei Hinsicht, wie die Beispiele zeigen. Auch in Kirgistan gibt es leider ein neues Gesetz, das es Behörden erlaubt, Websites zu sperren, wenn sie Desinformation enthalten – ohne zu definieren, was genau eigentlich darunter fällt. Das öffnet dem Missbrauch Tür und Tor. Auf der anderen Seite dürfen wir eines nicht vergessen: Immer mehr Menschen stehen auf und prangern Missstände an. In Kasachstan waren es im Januar ganz normale Bürger, die auf die Straße gingen, um sich über steigende Spritpreise zu beschweren. Das war mutig, weil Demonstrationen dort grundsätzlich nicht erlaubt sind und sie damit rechnen mussten, verhaftet zu werden. Trotzdem breiteten sich die Proteste im ganzen Land aus. Im Kern ging es um ein Gefühl der Empörung und die Bereitschaft, etwas zu riskieren. In allen genannten Ländern gibt es Menschen, die sich für Menschenrechte engagieren – und wir von Human Rights Watch und auch andere unterstützen sie von außerhalb.

Was können westliche Demokratien wie Deutschland oder die USA tun?
Sie können sich für alle einsetzen, die in diesen Gegenden wichtige Arbeit leisten, zum Beispiel zivilgesellschaftliche Organisationen. Konkret könnten sie sich etwa für bessere journalistische Ausbildungsmöglichkeiten stark machen. Sie sind natürlich grundsätzlich an guten Beziehungen interessiert, zum Beispiel zu Kasachstan, einem rohstoffreichen Land. Trotzdem sollten sie bei bilateralen Gesprächen auch die Menschenrechte ganz oben auf die Tagesordnung setzen.

In Ihren Beispielen nehmen Sie häufig Bezug auf das Internet. Welchen Stellenwert hat es für die Meinungsfreiheit?
Das Internet ist ein entscheidendes Werkzeug geworden, um sich für Meinungsfreiheit zu organisieren. Die Demonstrationen in Kasachstan verbreiteten sich beispielsweise vor allem aufgrund des Internets wie ein Lauffeuer. In der Türkei fand Human Rights Watch heraus, dass viele Fälle von häuslicher Gewalt erst durch Social Media bekannt wurden. Die Betroffenen gingen nicht zur Polizei, zu der sie wenig Vertrauen haben. Über Social Media können sie dafür Aufmerksamkeit bekommen, das wiederum setzt Behörden unter Druck. Allgemein lässt sich sagen: Das Internet spielt eine so zentrale Rolle, dass ein Shutdown – wie in Kasachstan – nicht nur die Meinungsfreiheit beschneidet, sondern auch ökonomische und soziale Rechte, von Onlinebanking bis hin zu digitaler Gesundheitsversorgung.

Welche Rolle spielt Desinformation im Netz (siehe Rishikesh Thapa auf www.dandc.eu)?
Aus Russland ist bekannt, dass staatlich angeheuerte Akteure die Meinung im Internet mit Propaganda-Kkommentaren im Sinne von Putins Regierung beeinflussen. Es ist anzunehmen, dass es solche Troll-Ffabriken auch in anderen Ländern der Region gibt (siehe Alan C. Robles auf www.dandc.eu). Das ist eine große Herausforderung. Desinformation hat einen starken Einfluss auf die Wahrnehmung der Menschen – sie verändert unsere Gesellschaft. Propaganda zielt unter anderem darauf ab, eine bestimmte Version der Wirklichkeit durchzusetzen und gedankliche Alternativen einzuschränken. Dann fehlt der Raum für kritisches Denken. Auch das ist eine Art, freie Meinungsäußerung zu verhindern, wenn auch eine indirekte.

Zusammen mit den vielen negative Beispielen, die Sie genannt haben, klingt das eher ernüchternd.
Wir dürfen nicht zu pessimistisch sein. Ein Schlüssel zum Erfolg ist, das Internet noch besser zu nutzen: im Sinne selbstermächtigender Meinungsfreiheit, nicht zu verwechseln mit Fake- News und Geschwurbel. Ich denke zum Beispiel an Oppositionelle in Belarus, die ihr Land verlassen mussten und sich jetzt über große Distanzen online organisieren – in Polen, der Ukraine und im Baltikum. Es gibt bei all den negativen Beispielen wirklich auch viel Hoffnung.


Hugh Williamson ist als Direktor von Human Rights Watch für Europa und Zentralasien verantwortlich.
Twitter: @hughawilliamson

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