Mehrdimensionale Armut

Schulschließungen vertiefen digitale Kluft

Armut hat nicht nur mit Geld zu tun, sondern auch mit Bildung. Die Lockdowns während der Pandemie haben die soziale Ungleichheit verschlimmert. Eine Lehre aus Corona ist: Die Politik muss sich mit digitaler Armut befassen.
Interaktion unmöglich: Drittklässlerin in Islamabad verfolgt das Schulfernsehen 2021 von zu Hause aus. picture-alliance/ASSOCIATED PRESS/Saiyna Bashir Interaktion unmöglich: Drittklässlerin in Islamabad verfolgt das Schulfernsehen 2021 von zu Hause aus.

Armut wird meist finanziell definiert. Die Weltbank bezeichnet Menschen mit einer Kaufkraft von weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag als extrem arm, die Armutsgrenze für untere mittlere Einkommen liegt bei 3,20 US-Dollar pro Tag. Solche monetären Armutsbegriffe basieren auf Einschätzungen darüber, was Waren und Dienstleistungen kosten, die man braucht, um grundlegende Bedürfnisse zu erfüllen.

Allerdings sind nicht alle Güter und Dienstleistungen einfach auf dem Markt erhältlich, wie auch die Weltbank anerkennt. Für einige braucht es umfangreiche öffentliche Investitionen und Staatsausgaben, etwa für physische und soziale Infrastruktur wie Stromnetze, Abwassersysteme, Schulen und das Gesundheitswesen. Gibt es dort Mängel, verschlimmert das die Situation derer, die ohnehin Not leiden. Das sind besonders häufig Kinder. Weltweit zeigt sich, dass sie tendenziell schlechter dran sind als Erwachsene – und dass Frauen und Mädchen stärker betroffen sind als Männer und Jungen.

Zudem trifft Armut verschiedene Altersgruppen auf unterschiedliche Weise. Kinder sollten beispielsweise nicht selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen müssen. Die Kaufkraft einer Familie lässt allenfalls eine teilweise Bewertung der Situation zu. Armut ist am besten zu verstehen als multidimensionales Phänomen, das weit über Einkommen und Konsumverhalten hinausgeht. Andere Aspekte sind ebenfalls sehr wichtig.

SDGs greifen Armut auf

Das erste nachhaltige Entwicklungsziel (SDG1) ist die Beendigung der Armut „in all ihren Formen überall“. Die SDG-Agenda befasst sich auch mit etlichen verwandten Themen, von Gesundheit (SDG3) und Bildung (SDG4) bis hin zu Arbeitsbedingungen (SDG8), Infrastruktur (SDG9) oder Umweltgefahren (SDG11).

Laut UNDP (UN Development Programme – UN-Entwicklungsprogramm) waren 2019 rund 1,3 Milliarden Menschen in 101 Ländern von multidimensionaler Armut betroffen. Die Hälfte war unter 18 Jahre alt, 85 Prozent der jungen Menschen lebten in Südasien oder Subsahara-Afrika.

Von mehrdimensionaler Armut sind meist mehr Menschen betroffen als von der rein finanziellen Armut. Laut UNDP-Index 2019 für mehrdimensionale Armut litten etwa 39 Prozent der Menschen in Pakistan unter dieser Form von Armut, während nur 34 Prozent weniger als 3,20 US-Dollar pro Kopf und Tag hatten. Eine Studie des UN-Kinderhilfswerks Unicef in Pakistan belegt, dass etwa die Hälfte aller unter 18-Jährigen unter mindestens einem schweren Mangel leidet. Beispielsweise mangelt es ihnen an Zugang zu Schulbildung, guter Gesundheitsversorgung oder sauberem Trinkwasser. Am größten ist die Benachteiligung laut der Studie in Bezug auf Informationsbedürfnisse. Viele dieser Kinder kommen aus Familien, die nicht finanziell arm sind.

Wachsende Kinderarmut

Seit 2019 hat zudem die Kinderarmut laut Unicef weltweit um zehn Prozent zugenommen. Rund 1,2 Milliarden Kinder sollen 2020 in multidimensionaler Armut gelebt haben.

Besonders drastisch war es im Bildungsbereich. Durch die Schulschließungen blieb mindestens einem Drittel der Schulkinder weltweit jeglicher formaler Unterricht verwehrt – vor allem, weil es an digitalem Equipment mangelte. Ländliche Gebiete waren besonders betroffen. Eine schlechte Anbindung und zu große Klassen verschärften die Probleme.

Hinzu kommen geschlechtsspezifische Aspekte. In männerdominierten Gesellschaften hatten eher Söhne Zugang zu mobilen Geräten. Für die Töchter stellt die Schule zudem in normalen Zeiten einen sicheren öffentlichen Raum dar, der ihnen nun verwehrt blieb (Ipsita Basu erörtert die Lage in Indien auf www.dandc.eu). Laut Unicef konnten in Südasien und Subsahara-Afrika nur bis zu sieben Prozent der Schülerinnen und Schüler das Internet nutzen.

Die Regierungen fanden Übergangslösungen. Waren keine IT-Lösungen verfügbar, wurde Unterricht im Fernsehen oder Radio angeboten. So allerdings ist die persönliche Interaktion nicht möglich, die es in digitalen Klassenzimmern gibt. Das erschwerte zusätzlich die Situation von Kindern armer Eltern, die ohnehin oft nicht gut beim Lernen unterstützt werden. In Paki­stan bot ein Fernsehsender täglich eine Stunde Bildungsprogramm für alle Stufen an. Die BBC-Mitarbeiterin Mehreen Zahra-Malik nannte die Minderheit, die von digitalen Plattformen profitierte, die „Glücklichen“.

Digitale Armut

Die Pandemie hat somit die Kluft in der Digitalisierung vertieft, die sich ohnehin auftut zwischen verschiedenen Ländern, aber auch innerhalb eines Landes. Unicef fand einen klaren Zusammenhang zwischen dem Bruttonationaleinkommen pro Kopf eines Landes und dem Prozentsatz der Schülerinnen und Schüler mit Zugang zu digitalen Klassenzimmern. Das schon vor Corona bestehende Thema der „digitalen Armut“ ist also drängender geworden. Die Digital Poverty Alliance, eine 2021 in Großbritannien ins Leben gerufene zivilgesellschaftliche Initiative, definiert sie als „fehlende Möglichkeit, umfassend mit der Online-Welt zu interagieren, wann, wo und wie eine Person dies benötigt“. Die Allianz betont, dass digitale Ausgrenzung soziale Ungleichheiten verschärft und neue schafft.

Auch hier ist die Kluft zwischen den Geschlechtern groß. Frauen und Mädchen haben meist schlechteren Zugang zu digitalen Geräten und geringere digitale Kompetenzen (etwa in Pakistan, siehe Sundus Saleemi auf www.dandc.eu).

Eine wichtige Lehre aus der Corona-Krise ist daher, dass jede Art von digitaler Kluft öffentliche Beachtung verdient. Das SDG-Motto – niemand wird zurückgelassen – schließt alle ein, denen die Möglichkeiten der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien noch vorenthalten sind. Die Entwicklungsländer müssen eine angemessene digitale Infrastruktur aufbauen und digitale Kompetenzen fördern – auf nationaler Ebene, mit tatkräftiger Unterstützung durch internationale Organisationen.


Mahwish Gul ist eine pakistanische Beraterin, die sich auf Entwicklungsmanagement spezialisiert hat. Sie lebt in Nairobi.
mahwish.gul@gmail.com