Wiederkehrendes Trauma

Gefühle historischer Demütigung

Die Zerstörung der Babri-Moschee in Ayodhya im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh markierte 1992 einen Wendepunkt in der Geschichte des unabhängigen Indiens. Am 6. Dezember rissen sie fanatische Hindus nieder, um Platz für einen Rama-Tempel zu schaffen. Sie behaupteten, solch ein Tempel sei dort während der Mogulen-Herrschaft im frühen 16. Jahrhundert abgerissen worden, um Platz für die Moschee zu schaffen. Das wollten sie rückgängig machen. Arfa Khanum Sherwani kommt aus einer anderen Gegend von Uttar Pradesh und war dort von der antiislamischen Gewalt betroffen, die ganz Indien erschütterte.
Abriss der Babri-Moschee 1992. picture-alliance/dpa-Bildarchiv Abriss der Babri-Moschee 1992.

Was haben Sie am 6. Dezember 1992 erlebt?
Ich war zwölf Jahre alt und habe mit Glück überlebt. Meine Familie ist muslimisch. Wegen steigender Spannungen waren viele unserer muslimischen Nachbarn bereits geflohen, aber mein Vater glaubte an die säkulare Staatsordnung. Erst zu Beginn der Krawalle begriff er, dass wir abhauen mussten. Ich trug ein Baby – meinen kleinen Bruder – und wurde von meiner Familie getrennt. Mit ihr wiedervereint wurden wir erst Stunden später in einem sicheren Flüchtlingslager. Diese Schreckensnacht überschattet mein ganzes Leben.

Es gab indienweit Krawalle. Es müssen viele Muslime ähnliche Erfahrungen gemacht haben.
Ja, ich habe einen Artikel mit Erinnerungen daran veröffentlicht, und bekam dann viele E-Mails, in der andere mir ihre Erlebnisse schilderten. Auch in Pakistan und Bangladesch tobte Gewalt, aber dort wurden Hindus, Sikhs und andere Minderheiten angegriffen. Bis dahin hatten indische Muslime der Verfassung, die religiöse Diskriminierung verbietet, Vertrauen geschenkt. Wir glaubten, Indien sei auf dem Weg zur Entwicklung und Wohlstand. Seither wissen wir, dass Hindu-Chauvinisten eine ganz andere Vision von Indien als Land für Hindus haben und gewaltbereit sind.

Vor Ayodhya gab es das Trauma der Teilung. 1947 endete die Kolonialherrschaft, und Britisch-Indien wurde in Indien und Pakistan aufgeteilt. Es gab Massenflucht und grausame Massaker auf beiden Seiten. Setzte sich das 1992 fort?
Die Probleme sind noch älter, denn religiöse Differenzen bremsten in den 1920er und 30er Jahren die Unabhängigkeitsbewegung. Nach dem Motto „Teile und herrsche“ hetzten die Briten die großen Religionsgemeinschaften gegeneinander auf. Trotzdem glaubten indische Muslime, die Identitätsfrage sei abschließend geklärt, denn sie hatten sich bewusst für Indien entschieden – auch weil Jawaharlal Nehru, der erste Premierminister, einen säkularen Neustart versprach.

Auch nach 1992 gab es Gewalt – zum Beispiel 2002 in Gujarat, wo damals Narendra Modi Ministerpräsident war. Heute ist er Premierminister. 2002 lancierten Hindu-Chauvinisten das Pogrom, nachdem hinduistische Pilger in einem brennenden Zug umgekommen waren, was die Fanatiker „muslimischen Brandstifter“ vorwarfen.
Trotz dieser Grauen dachten wir, die Dinge würden sich langfristig zum Besseren wenden. Staatsinstitutionen befürworteten grundsätzlich weiterhin Säkularismus. Es gab zwar Misstrauen zwischen Moslems und Hindus, aber auf der lokalen Ebene lebten sie friedlich zusammen. Das ist vielerorts immer noch so, aber seit Modi Premierminister ist, wird es immer schwieriger. Seine Partei, die BJP, gehört zum Netzwerk hindu-chauvinistischer Organisationen um den RSS. Der RSS ist eine autoritäre Kaderorganisation, deren Ideologie zufolge Indien eine Hindu-Nation sein muss. Modi ist RSS-Mitglied. Seine Regierung verfolgt eine harte Linie, und zwar seit der Wiederwahl 2019 noch offener und aggressiver. Die BJP gewann zwar nicht einmal 40 Prozent der Stimmen, aber eine absolute Parlamentsmehrheit, weil ihre Kandidaten in vielen Wahlkreisen vorn lagen.

Modi beansprucht, Indien stark zu machen, aber er bringt dem Land nicht mehr Ansehen. Tatsächlich nimmt der internationale Einfluss von Regierungen ab, wenn sie mit dem Motto „Mein Land zuerst“ arbeiten. Das gilt auch für Donald Trump und die USA.
Die breite Öffentlichkeit in Indien hat kein tiefes Verständnis internationaler Beziehungen. Unser Land ist riesig. Nur wenige Menschen sind gut gebildet. Das jeweils dominante Narrativ trägt das Denken der Leute. Slogans von „nationaler Stärke“ kommen bei erschreckend vielen Menschen an, denen nicht bewusst ist, wie die Chauvinisten die Religion neu definieren. Historisch prägen den Hinduismus Toleranz, Gewaltlosigkeit und Synkretismus, also die Akzeptanz anderer religiöser Praktiken und Glaubenssysteme als spirituell wertvoll. Die Hindu-Chauvinisten machen die Religion aber zu einem Instrument der Ausgrenzung.

Sehnen sie sich wegen der kolonialen Vergangenheit danach, Minderwertigkeitsgefühle durch Machtausübung zu kompensieren?
Ich denke, das spielt eine Rolle, aber faszinierenderweise bezeichnen sie das britische Empire nie als „christlich“. Das Mogul-Reich nennen sie dagegen muslimisch. Das beeinflusst das Denken der Menschen.

Spielt es keine Rolle, dass Indien nie ein einheitlicher Hindu-Staat war? Das Ashoka- Reich war buddhistisch. Später gab es viele verschiedene Königreiche, deren Herrscher verschiedenen Glaubensrichtungen angehörten – darunter diverse Ausprägungen des Hinduismus. Tatsächlich ist „Hinduismus“ ein Begriff, mit dem Außenstehende sämtliche Religionen zusammenfassten, die irgendwie mit den Veden, den heiligen brahmanischen Schriften, zu tun hatten. Viele hinduistische Gebräuche und Traditionen haben aber nur einen lockeren Bezug zur Vedanta, der vedischen Lehre.
Leider interessieren sich Hindu-Chauvinisten sehr viel mehr für Hindutva, die Dominanz des Hinduismus, als für Vedanta. Sie bezeichnen alle, die ihr widersprechen, als „antinational“. Beklemmenderweise kommt das heute selbst bei manchen Angehörigen der untersten Kasten an. Hindutva-Agitation kultiviert Gefühle historischer Demütigungen und Benachteiligung und verspricht, diese Wunden zu heilen. Es mag jeglicher Logik widersprechen, aber heutige Muslime sollen dafür haften, was Mogul-Kaiser vor vielen Jahrhunderten taten oder auch nicht taten.

Rachegelüste helfen bei der Lösung aktueller Probleme wenig. Modi hat mehrfach Wirtschaftsreformen versprochen, kommt aber damit kaum voran.
Das stimmt. Das Wirtschaftswachstum hat sich verlangsamt, seit er an der Macht ist. Er hat Millionen neue Arbeitsplätze in Aussicht gestellt, aber nicht geliefert. Es gelang ihm trotzdem, wiedergewählt zu werden, wobei ihm die schwache Opposition, die keine glaubwürdige Alternative anbot, half.

Im vergangenen Winter gab es plötzlich ungewöhnlich breiten zivilgesellschaftlichen Protest gegen ihn. Massenhaft sprachen sich die Leute gegen ein neues Staatsbürgerrecht aus, das gegen Moslems diskriminiert. In welchem Maß war das eine muslimische Bewegung?
Die kritische Masse stellten Moslems, aber es machten auch viele andere mit – und zwar auch Hindus, die eine säkulare Demokratie wollen. Tatsächlich liegt es im Interesse aller indischen Minderheiten, die Verfassung zu schützen. Hindutva-Aggressionen richten sich aber besonders gegen Moslems. Sehr enttäuschend war zudem, dass Indiens unabhängiger Supreme Court im Herbst entschied, dass tatsächlich ein Hindu-Tempel am Standort der Babri-Moschee gebaut werden soll. Der Rechtsstreit hing davor jahrzehntelang in der Schwebe. Das schockierende Urteil zeigte, dass mittlerweile auch Richter sich davon beeinflussen lassen, was sie „Kollektivbewusstsein“ nennen. Damit meinen sie vielleicht die Stimmung in der größten Bevölkerungsgruppe.

Die Covid-19-Pandemie setzte der oppositionellen Bewegung ein Ende, denn Demonstrationen und Protestlager wurde wegen der Ausgangssperre unmöglich. Kann die Bewegung wieder auferstehen?
Ich habe da Zweifel. Die Modi-Regierung und ihre Unterstützer haben im Lockdown ihre Machtposition ausgebaut. In den Medien ist ein wirkungsmächtiges Narrativ geschaffen worden, dem zufolge die islamische Gemeinschaft absichtlich das Virus verbreitet hat. Die Zeit wurde auch genutzt, um Führungspersonen des zivilgesellschaftlichen Protests zu verhaften. Bezeichnenderweise gab es aber keine Schritte gegen prominente Hindu-Chauvinisten, die sich kurz vor den tödlichen Krawallen Ende Februar in Delhi mit antimuslimischer Hassrhetorik profiliert hatten.

Die meisten Opfer waren Moslems. Moscheen wurden in Brand gesetzt, aber keine Tempel. Dennoch behaupten Hindu-Chauvinisten, Moslems hätten die Krawalle gestartet, die im Rückblick einem antiislamischen Pogrom gleichen. Der prominente Indienkenner und Politikwissenschaftler Paul R. Brass argumentiert seit Jahrzehnten, dass derartige Gewalt nicht spontan entsteht. War es ein organisiertes Pogrom?
Ich selbst kann das nicht beweisen. Die Delhi Minorities Commission urteilte aber, die Gewalt sei „einseitig und gut geplant“ gewesen. Diese Kommission untersteht der Landesregierung von Delhi, welche nicht von der BJP kontrolliert ist. Bemerkenswert finde ich auch, dass die Randalierer mit Gaszylindern Gebäude in Brand steckten. Das ist nicht leicht und zeigt, dass die Täter gut ausgerüstet und technisch versiert waren. Erschreckenderweise erwies sich aber der Covid-19-Lockdown als noch wirkungsvolleres Repressionsinstrument. Die schreckliche Wahrheit ist, dass manche indischen Hindus in gewissem Maß die Botschaft akzeptiert haben, dass sie Moslems leiden sehen müssen, um sich selbst stark zu fühlen.


Arfa Khanum Sherwani ist leitende Redakteurin der unabhängigen Website TheWire.
Twitter: @khanumarfa
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