ODA
Das Ende der Gewissheiten
Der Entwicklungshilfeausschuss der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) (2017) sieht die Grundlage für einen neuen Konsens für eine Entwicklungsagenda in vier Abkommen:
- der Agenda 2030 und ihren 17 Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals – SDGs),
- der Addis Ababa Action Agenda (AAAA) zur Entwicklungsfinanzierung,
- dem Sendai Rahmenwerk für Katastrophenvorsorge (Sendai Framework on Disaster Risk Reduction) und
- dem Pariser Klimaabkommen.
Es ist richtig, diese Überkommen in den Mittelpunkt zu stellen und als Grundlage für entwicklungsorientiertes Handeln zu begreifen. Ebenso wichtig ist es jedoch, Rahmenbedingungen zu erkennen, die nicht unbedingt für einen solchen Konsens förderlich sind. Schon allein im Kreis der OECD-Geberländer sind die Prioritäten und Ziele sehr unterschiedlich.
Als beispielsweise im vergangenen Oktober die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und der US-Milliardär Bill Gates, der mit seiner Stiftung ein zentraler Akteur der internationalen Entwicklungshilfe ist, im Europäischen Parlament über die Zukunft der ODA der EU sprachen, wurde deutlich, wie weit ihre Vorstellungen auseinanderliegen: Während Mogherini betonte, wie in jüngster Zeit mit entwicklungspolitischen Mitteln der Migrationsdruck gemindert worden sei, wies Gates auf die enormen Potenziale von technischen Innovationen für die Bearbeitung globaler Gesundheitsthemen hin.
Eine neue Analyse der unterschiedlichen Bereiche des entwicklungspolitischen Systems bestätigt den Trend weit voneinander abweichender Vorstellungen (Gonsior/Klingebiel 2019): Entwicklungspolitische Narrativdebatten (Welche Ziele sollen überhaupt verfolgt werden?), Diskurse über Strategien (Wie können diese Ziele erreicht werden? Welche Ländergruppen sollen im Vordergrund stehen?) und Diskussionen über operative Ansätze (Wie müssen Projekte und Programme gestaltet sein, damit diese wirksam sein können?) stehen heute eher unverbunden nebeneinander und sind schon jeweils für sich genommen höchst widersprüchlich. Auf operativer Ebene ist beispielsweise die Weiterentwicklung von lokal basierten Entwicklungsansätzen relevant für die bessere Ausgestaltung von Vorhaben, für die Einbeziehung lokaler Zielgruppen sowie für die Rolle beteiligter Institutionen. Diese Debatte prägt aber kaum übergreifende Narrativdiskussionen, bei denen in den vergangenen Jahren migrationsbezogene Ziele weitgehend die Oberhand gewonnen haben.
Die aktuelle Positionsbestimmung von Entwicklungszusammenarbeit (EZ) ist somit kein leichtes Unterfangen. Die Veränderungen innerhalb und außerhalb des entwicklungspolitischen Systems betreffen grundlegende Strukturfragen und gehen deutlich weiter als früher. Fünf Veränderungen sind hervorzuheben:
1. Zielsetzungen von EZ / Neue Betonung nationaler Interessen:
EZ an Interessen des Gebers auszurichten, galt über viele Jahre als Kennzeichen für geringe Entwicklungsorientierung. Zu den entwicklungspolitischen Standards gehörten deshalb Lieferaufbindung – also keine Bedingungen, Waren und Dienstleistungen aus dem Geberland zu beziehen – und die Förderung guter Regierungsführung. Die Massivität, mit der in den vergangenen Jahren Migrationszielsetzungen in die EZ aufgenommen wurde, stellt die prägendste Veränderung dar. Eigene Instrumente wie der European Union Emergency Trust Fund for Africa (EUTF) und die finanzielle Unterstützung speziell von Ländern, die aus Gebersicht migrationsrelevant sind, haben die ODA der europäischen Geber und der USA in den vergangenen Jahren erheblich verändert.
Daneben sind auch andere Geberinteressen (wieder) verstärkt Teil der Debatten. Dies gilt etwa übergreifend für EZ-Konditionen als Teil des internationalen wirtschaftlichen Wettbewerbs, insbesondere mit Blick auf Schwellenländer und deren Süd-Süd-Kooperationsansätze, oder für Britanniens Ansatz, die negativen Auswirkungen des Brexits auch mit EZ zu begrenzen.Ein wichtiger Punkt ist, dass die Bearbeitung globaler Themen wie weltweite Gesundheit oder Klimawandel nicht in die Einordnung zwischen nationalen Interessen und Entwicklungsinteressen passt.
2. Dichotomie der Ansätze:
Die vergangenen 15 Jahre waren von einem Aufstieg der Süd-Süd-Kooperation geprägt. Trotzdem gibt es bislang kein gemeinsames Verständnis darüber, was Süd-Süd-Kooperation beinhaltet und wie entsprechende Leistungen messbar gemacht werden könnten. Auch die UN-Konferenz zu Süd-Süd-Kooperation (BAPA+40) in Buenos Aires im März (siehe Ramalho et al. im Schwerpunkt des E+Z/D+C e-Papers 2019/07) hat dazu keine neuen Wege aufgezeigt. Es gibt keine gemeinsame Plattform, auf der sich OECD-Geber und Süd-Süd-Kooperationsanbieter über Grundlagen, Normen und Standards verständigen könnten. Bestehende Foren werden entweder nicht von allen Akteuren akzeptiert oder funktionieren nicht für Aushandlungsprozesse. So stehen der OECD-Beitrag und Süd-Süd-Kooperationsansätze nebeneinander, ohne dass ein relevanter Austausch stattfindet.
3. Schrumpfende klassische Entwicklungswelt:
Wirtschaftliche Erfolge der vergangenen Jahrzehnte haben dazu geführt, dass die Zahl der Länder abnimmt, die die OECD als Entwicklungsländer einstuft. Seit 1970 kamen 11 Länder neu hinzu (überwiegend Republiken der ehemaligen Sowjetunion), während 60 Länder von der Liste gestrichen wurden. Zuletzt betraf das Anfang 2018 Chile, die Seychellen und Uruguay. Wichtige Empfängerländer wie China und die Türkei werden mittelfristig folgen. Wie dieser Trend das EZ-Politikfeld verändern wird und wie eine Kooperation mit Ländern aussehen sollte, die nicht mehr auf der Liste stehen, ist bislang kaum durchdacht (siehe Michael Krempin im Schwerpunkt des E+Z/D+C e-Papers 2019/07).
4. Relativer Bedeutungsrückgang:
ODA ist nur ein Teil von Entwicklungsfinanzierung, Steuern sind überall die wichtigste Basis dafür (siehe hierzu auch Beitrag von Dereje Alemayehu im Schwerpunkt des E+Z/D+C e-Papers 2019/07). Dies gilt selbst für die am wenigsten entwickelten Länder, wo nach OECD-Angaben immerhin durchschnittlich 43 Prozent der Entwicklungsfinanzierung aus Eigeneinnahmen stammen (zum Vergleich: in der oberen Gruppe der Mitteleinkommensländer sind es 78 Prozent). Die Diversifizierung ist überwiegend positiv zu sehen, weil dadurch mehr Ressourcen verfügbar sind und weniger Abhängigkeiten gegenüber traditionellen Gebern bestehen. Sie kann aber auch problematisch sein, wenn damit schlechtere und intransparente Konditionen verbunden sind oder die SDGs kaum befördert werden.
EZ kann Anstöße für Entwicklung geben und Finanzierungsengpässe gerade in solchen Ländern überbrücken helfen, die nur sehr begrenzt auf andere Quellen zurückgreifen können, etwa aufgrund unzureichender Steuerbasis, geringer privater Investitionen und wenig Gastarbeiterüberweisungen. Viele Ressourcen lassen sich zudem kaum entwicklungsorientiert steuern.
5. Post Aid Effectiveness:
Die Prinzipien zur Steigerung der Wirksamkeit von EZ – allen voran die Pariser Erklärung von 2005 und die Busan-Erklärung von 2011 – gelten weiterhin. Doch das Momentum, das die Wirksamkeitsdebatte einst hatte, und die politische Bereitschaft, an Reformen zu arbeiten, sind in weiten Teilen einer von Eigeninteressen geleiteten Entwicklungspolitik gewichen. Britannien, langjähriger Hauptprotagonist der Wirksamkeitsagenda, ist heute mit anderen Themen befasst. Viele Geber lassen sich offenbar kaum noch von den ehemaligen Anliegen – etwa programmbasierter Ansätze – leiten. Stattdessen haben beispielsweise zweckgebundene Beiträge an multilaterale Akteure und thematische Allokationsansätze (in Deutschland zu einem großen Teil über die Sonderinitiativen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) neue entwicklungspolitische Herangehensweisen entstehen lassen. Diese Veränderungen finden sich kaum als Grundsatzthemen in den laufenden internationalen Debatten wieder.
Dass die Anzahl der Entwicklungsländer kleiner wird, bedeutet nicht, dass grenzüberschreitende Zusammenarbeit nicht mehr nötig wäre. Im Gegenteil: Kooperation ist heute wichtiger als je zuvor, um weltweit nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Eine solche Kooperation schließt ODA ein, geht aber über entwicklungspolitische Handlungsansätze weit hinaus.
Ob demokratische Anliegen gestärkt oder erneuerbare Energien gefördert werden müssen, hängt zwar auch, aber nicht allein vom Einkommensstatus eines Landes ab. Bislang gibt es nur zaghafte Ansätze, globale nachhaltige Entwicklung jenseits der spezifischen Länderkategorie „Entwicklungsland“ zu betreiben. Darin steckt aber erhebliches Potenzial, um Multi-Akteursansätze – etwa zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes auf subnationaler Ebene – zu unterstützen. In dieser Hinsicht ein grundsätzliches anderes Verständnis von grenzüberschreitender Kooperation zu etablieren würde für ODA und andere Politikfelder einen zukunftsweisenden neuen Rahmen schaffen.
Stephan Klingebiel ist Forschungsprogrammleiter am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) und regelmäßiger Gastprofessor an der Stanford University. Seit Mitte Juni 2019 hat er sich vom DIE beurlauben lassen, um für UNDP das Global Policy Centre in Seoul in Südkorea zu leiten. Der vorliegende Beitrag entstand während seiner Zeit am DIE.
stephan.klingebiel@die-gdi.de
Quellen
High-Level Panel des Entwicklungshilfeausschusses der OECD, 2017: A New DAC in a Changing World.
https://www.oecd.org/dac/Report-High-Level-Panel-on-the-DAC-2017.pdf
Gonsior, V., Klingebiel, S., 2019: The development policy system under pressure. Acknowledging limitations, sourcing advantages and moving towards a broader perspective.
https://www.die-gdi.de/uploads/media/DP_6.2019.pdf