Politische Systeme

Armutsbekämpfung

Nach konventioneller westlicher Sicht ist Demokratie gut und Diktatur schlecht. Diese vereinfachende Unterscheidung hilft aber nicht, die unterschiedlichen Fortschritte Chinas und Indiens bei der Armutsbekämpfung in den letzten sieben Jahrzehnten zu verstehen.
Bauarbeiter in Kalkutta: Schutzrechte sind in China weiter entwickelt als in Indien. dem Bauarbeiter in Kalkutta: Schutzrechte sind in China weiter entwickelt als in Indien.

Indien ist gemäß Verfassung eine parlamentarische Demokratie. Dennoch hat unsere Demokratie erhebliche Mängel. Regierungsbehörden stehen im Ruf der Korruption und die Armen sind politisch marginalisiert. Das liegt nicht nur an den Traditionen des hierarchischen Kastensystems, sondern auch daran, dass Indiens Arme auf extreme Weise sozial und wirtschaftlich verletzlich sind.

In der repräsentativen Demokratie Indiens waren sie von Anfang an unterrepräsentiert. Ihre Menschenrechte wurden mit Füßen getreten und sind bis heute kaum geschützt. Dass das Rechtssystem weitgehend auf Englisch funktioniert, trifft diese Bevölkerungsgruppe besonders hart. Bis heute genießen vor allem gebildete und wohlhabende Schichten die von der Verfassung versprochenen Rechte.

Es stimmt, dass freie Wahlen den Parteien, die untere Kasten und marginalisierte Gemeinschaften vertreten, Chancen eröffnet haben. Dennoch bleibt Indiens politisches System insgesamt armenfeindlich. Das formal demokratische Indien vernachlässigt systematisch ihre Bedürfnisse.

Die Erfolgsbilanz Chinas ist gemischt. Unter Mao Zedong wurden gute Fortschritte beim Massenzugang zu Grundschulbildung und medizinischer Grundversorgung erzielt. Auf der anderen Seite gab es politische Katastrophen wie den Großen Sprung nach Vorn oder die  Kulturrevolution. Brutale Unterdrückung führte zu Millionen von Toten. Hätten Entscheidungen des obersten Führers in Frage gestellt werden können, wäre das vermutlich anders gekommen.

Unter Deng Xiaoping blieb Chinas Regierung „autokratisch“, war aber eindeutig entwicklungsorientiert. Das Regime testete verschiedene Ansätze und entschied sich dann für die erfolgreichen. Es duldete keine Opposition, lockerte aber in vielen Bereichen die Zügel, und wenn die Unzufriedenheit mit Umweltproblemen oder Arbeitsbeziehungen zu Protesten eskalierte, suchte es nach Lösungen. Ein Beispiel dafür war das 2008 eingeführte Arbeitsrecht, das auf viele Arbeitnehmeranliegen einging. Indische Arbeitskräfte würden von einem solchen Gesetz profitieren. Den Indern, die nach China reisen, fällt auch auf, dass die Luftverschmutzung in Peking heute nicht so schlimm ist wie in vielen unserer Städte (siehe Aditi Roy Ghatak in Schwerpunkt von D+C/E+Z e-Paper 2020/01).

Bemerkenswert ist zudem, dass beide Länder ab den 1980er Jahren ihre Regierungssysteme dezentralisiert haben. In Indien gewannen die Regierungen der Bundesstaaten nach dem Ende der Zentralplanung Anfang der 1990er an Bedeutung. China entwickelte ein komplexes System zur Erprobung unterschiedlicher politischer Konzepte in verschiedenen Regionen. Regierungsverantwortliche in Indien müssen auf mächtige Interessengruppen achten, wohingegen sie sich in China augenscheinlich mehr auf Entwicklungsziele konzentrieren können.

Beunruhigend ist in beiden Ländern, dass die nationalen Regierungen in den letzten fünf Jahren autoritärer geworden sind und ihre Politik rabiater durchsetzen. Indiens derzeitiger Premierminister Narendra Modi will das Land zu einer Hindu-Nation machen (siehe Interview mit Arfa Khanum Sherwani im Schwerpunkt des E+Z/D+C E-Papers 2020/08), und Chinas Präsident Xi Jinping kehrt die Fortschritte auf dem Weg zu einer regelgebundenen Staatsführung um (siehe Nora Sausmikat im Schwerpunkt des E+Z/D+C E-Papers 2017/02). Er wendet immer raffiniertere  Systeme zur Überwachung der Bürger an, zeigt aber an deren Wünschen und Bedürfnissen weniger Interesse, als das seine Vorgänger taten.

Die Unterdrückung der muslimischen Uiguren in China ist nicht akzeptabel, aber das gilt auch für die Behandlung der muslimischen Kaschmiris in Indien. Dutzende Menschen starben in den letzten Monaten bei Protesten und islamophoben. Dagegen reagierte China auf die Demokratiebewegung in Hongkong praktisch ohne Blutvergießen. Dank einer relativ freien Presse können sich Inder indessen generell leichter über missbräuchliches Staatshandeln informieren als Chinesen auf dem Festland – und künftig wahrscheinlich auch in Hongkong.

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