BIP-Statistiken
Weshalb BIP-Statistiken in die Irre führen
Solche Daten sind aber aus mehreren Gründen irreführend. Dass mehr Geld ausgegeben wird, bedeutet nämlich nicht, dass sich das Leben der Menschen verbessert. Als Hurricane Helene verheerend durch südliche Staaten der USA tobte, löste jeder versicherte Schaden Geldüberweisungen aus. Diese konnten aber längst nicht alle Verluste ausgleichen. Der Sturm hatte Todesopfer gefordert. Auch vernichtete er unersetzliche Erbstücke.
Selbst dort, wo arme Menschen sich keine Versicherung leisten können, bedeutet Wiederaufbau nach Desastern Wachstum. Trotzdem geht es den betroffenen Gemeinschaften langfristig oft schlechter als vor der Katastrophe.
Das BIP erfasst auch nicht alle Güter und Dienstleistungen. Wenn eine Familie Gemüse aus dem eigenen Garten verzehrt, zählt diese Mahlzeit nicht. Nimmt sie dieselbe Speise in einem Restaurant zu sich, ist das BIP-relevant. Die Statistik erfasst dann Erzeugerpreis, Großhandelspreis, Transport- und Vertriebskosten sowie Gehälter des Personals und Miete für das Lokal.
Subsistenzlandwirtschaft und gemeinschaftliche Selbsthilfe
Das ist mit Blick auf den Entwicklungsstatus verschiedener Länder wichtig. Subsistenzlandwirtschaft wird nämlich nicht bezahlt, ernährt aber Massen von Menschen in Ländern mit niedrigen Einkommen. Auf ähnliche Weise gibt es in gering entwickelten Ländern sehr viel unbezahlte Nachbarschaftshilfe, zum Beispiel in städtischen Elendsvierteln. Mütter brauchen dort typischerweise keine formalisierte Kinderbetreuung. Irgendjemand aus der Nachbarschaft ist immer in der Lage, den in Gruppen spielenden Nachwuchs im Blick zu behalten. Je wohlhabender Menschen sind, desto eher bezahlen sie alle Arten von Care-Arbeit.
Statistiken sind obendrein nie so präzise, wie ihre exakten Zahlen glauben machen. Es ist unmöglich, jeden Geldschein und jede Münze beim Wechsel von einer Hand in die andere zu dokumentieren. Also enthalten BIP-Zahlen grundsätzlich Schätzungen für den Schwarzmarkt und undokumentierte informelle Tätigkeiten. Sie erfassen also den Lebensalltag benachteiligter Menschen nicht präzise.
Ohnehin sind Statistiken nur so zuverlässig wie die erstellenden Institutionen. Wo Zweifel an der Qualität der Regierungstätigkeit bestehen, gilt das gleichermaßen für offizielle Statistiken. Seit Indien unter Premierminister Narendra Modi die Methodik änderte, fallen die BIP-Zahlen dem früheren Zentralbankgouverneur Raghuram Rajan zufolge systematisch höher aus als zuvor.
Entwicklungsfachleute wissen seit Langem, dass Einkommenszahlen an sich keinen guten Einblick in die Lebensqualität eines Landes geben. Deshalb hat das UN-Entwicklungsprogramm schon 1990 den Human Development Index (HDI) eingeführt. Zu seiner Berechnung werden auch Gesundheitsdaten (wie etwa durchschnittliche Lebenserwartung) und Bildungsindikatoren (wie die Alphabetisierungsrate) herangezogen.
In Fachkreisen wird der HDI beachtet, aber allgemeinbildende Medien interessieren sich weiterhin vor allem für Wirtschaftswachstum. Auch Entscheidungen in Politik und Wirtschaft orientieren sich oft daran. Die Öffentlichkeit folgt somit noch immer einem ungenügenden Paradigma.
Die USA sind ein gutes Beispiel dafür, wie wenig BIP-Zahlen besagen. Das Land liegt in Einkommensstatistiken immer höher als im jährlich erstellten HDI-Ranking. Das hat System. Die USA haben beispielsweise die höchsten Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit (mehr als 12 000 Dollar pro Jahr), aber die durchschnittliche Lebenserwartung liegt in 54 anderen Ländern höher als die knapp 80 Jahre Amerikas. Das Gesundheitswesen ist dort sehr teuer, aber nicht besonders gut.
PS: BIP-Wachstum ist keine gute Messlatte für Erfolg. Leider orientiert sich der Wirtschaftsjournalismus oft an einer noch weniger geeigneten. In verschiedenen Ländern mit hohen Einkommen liegt der Börsenindex zurzeit auf Rekordniveau. Das gilt sogar für den DAX, obwohl Deutschland aktuell wegen Rezession, bröckelnder Infrastruktur und Haushaltsstreitigkeiten generell als kranke Volkswirtschaft gilt. Der Grund für den starken DAX sind aber fallende Zinsen, nicht die Erwartung höherer Unternehmensgewinne. Die Investoren rechnen damit, dass Aktien höhere Renditen bringen als Anleihen. Mit volkswirtschaftlichem Erfolg hat das nichts zu tun.
Praveen Jha ist VWL-Professor and der Jawaharlal Nehru University in Neu-Delhi.
praveenjha2005@gmail.com