Entwicklung und
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Rezension

Die Wachstumsillusion

Wer verstehen will, was in der Wirtschaftspolitik schiefläuft, sollte im Wirtschaftsjournalismus nachfragen. David Pilling, Afrika-Redakteur der Financial Times, liefert in seinem Buch „The growth delusion“ aufschlussreiche Einblicke. Auf leicht zugängliche – und sogar unterhaltsame – Weise zeigt er die Absurditäten auf, die sich aus der Fixierung auf immer höhere BIP-Zahlen ergeben.
Maasai-Hirte in Kenia: Die BIP-Statistiken spiegeln die Lebensstandards in den ländlichen Gebieten von Entwicklungsländern nicht genau wider. Koene / Lineair Maasai-Hirte in Kenia: Die BIP-Statistiken spiegeln die Lebensstandards in den ländlichen Gebieten von Entwicklungsländern nicht genau wider.

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) misst vereinfacht gesagt alles, wofür innerhalb eines Landes Geld ausgegeben wird. Die gängige Annahme lautet: Je höher die Ausgaben, desto besser geht es den Menschen. Doch diese Annahme ist aus mehreren Gründen falsch. So kostet es zum Beispiel Geld, Umweltschäden zu reparieren, steigert aber nicht das Wohlbefinden. Im besten Fall stellt das lediglich den vorherigen Zustand wieder her. Andererseits wird alles, was kein Geld kostet, im BIP nicht berücksichtigt. Kümmert sich eine Familie selbst um ein älteres Mitglied, fließt diese Leistung nicht in die BIP-Statistik ein. Beauftragt sie jedoch eine Pflegekraft, sehr wohl. 

Pilling erklärt diese Zusammenhänge sehr anschaulich. Werbung beispielsweise macht Menschen nicht unbedingt glücklicher, sie hält sie lediglich dazu an, immer neue Dinge zu wollen. Weil Werbung Geld kostet, trägt sie jedoch zum Wachstum bei. Auch ungesunde Ernährung führt zu höheren Ausgaben – sei es für Lebensmittel oder später für Medikamente zur Behandlung der daraus resultierenden Krankheiten. Das Wohlergehen der Menschen verbessert sich so kaum. 

Als besonders kurios bezeichnet Pilling die Tatsache, dass Großbritanniens nationale Statistiken auch geschätzte Einnahmen aus illegaler Prostitution und Drogenhandel beinhalten. Jede freiwillige Geldtransaktion wird als Beitrag zum BIP gewertet. Damit zählen auch Aktivitäten zu diesem vermeintlichen Wohlstandsindikator, die der Staat als gesellschaftsschädlich einstuft. Pilling diskutiert dabei nicht, ob diese Aktivitäten legalisiert werden sollten, sondern weist lediglich auf diesen Widerspruch hin. 

„Je größer unsere Banken, je überzeugender unsere Werbung, je höher unsere Kriminalität und je teurer unser Gesundheitswesen, desto besser wird der Zustand unserer Volkswirtschaft bewertet“, schreibt Pilling. Und es gibt in seinen Augen noch einen weiteren Grund, warum es problematisch ist, volkswirtschaftlich ausschließlich aufs Wachstum zu schauen: BIP-Daten sagen nichts darüber aus, wie Einkommen verteilt sind und ob Ungleichheit zu- oder abnimmt. 

Pillings Buch zeigt, dass wir eine ganze Dekade verloren haben. Noch vor der globalen Finanzkrise von 2008 hatten einige westliche Entscheidungsträger*innen begonnen, den Nutzen des in BIP-Statistiken gemessenen wirtschaftlichen Wachstums zu hinterfragen. Im Auftrag des damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy veröffentlichte eine Kommission von Fachleuten 2009 einen entsprechenden Bericht. Einige Ökonom*innen schlugen vor, Glück als politisches Ziel zu betrachten. 

In der Wirtschaftskrise konzentrierte sich die öffentliche Aufmerksamkeit jedoch wieder auf Wachstum. Es überrascht nicht, dass die Ergebnisse pervers sind: Die globale Umweltkrise hat sich verschärft, und die Ungleichheit hat zugenommen. Pilling argumentiert überzeugend, dass das Wachstumsparadigma Teil des Problems ist. 

Anders als viele westliche Journalist*innen verfügt Pilling über ein tiefes Verständnis für Entwicklungsländer, da er viele Jahre aus Afrika und Asien berichtet hat. Er stellt richtig fest, dass Wachstum in sehr armen Volkswirtschaften unverzichtbar ist. Wenn eine Gesellschaft nicht über die Mittel verfügt, grundlegende Bedürfnisse zu erfüllen, muss sie ihre Ressourcen erweitern. Das gilt nicht für reiche Länder, wo ein steigendes BIP, gemessen in Geldwerten, jedoch auch nicht für mehr Zufriedenheit sorgt. 

Gleichzeitig warnt Pilling, dass BIP-Zahlen in Entwicklungsländern oft irreführend sind. Subsistenzlandwirt*innen zum Beispiel verdienen kaum Geld und tauchen daher in den Statistiken nicht auf. Ihr Wohlstand hängt von guten Ernten ab, doch die Statistiken bewerten lediglich die Ernteerlöse. Sie geben der Politik so kaum Aufschluss darüber, wie ein großer Teil der Landbevölkerung zurechtkommt. 

Pilling bietet keine einfache Methode oder Zahl an, die das BIP ersetzen könnte. Vielmehr betont er, dass politische Entscheidungsträger*innen viele Aspekte berücksichtigen müssen, darunter die Einkommensverteilung und Zweckmäßigkeit der Ausgaben. In einer komplexen Welt gibt es schlicht keine einfache Richtlinie, an der sich die Politik orientieren könnte. Literaturhinweis Pilling, D., 2019: The growth delusion. London, Bloomsbury. 

Hans Dembowski ist Chefredakteur von E+Z/D+C. 
euz.editor@dandc.eu 

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