Unsere Sicht

Klima auf der Kippe

Tausende Tote und neue Temperaturrekorde zeigen die Drastik der Klimakrise. Dies sollte nicht zu Entmutigung führen, sondern im Gegenteil zu mehr Kooperation und weniger Polarisierung. Jedes Zehntelgrad weniger Erwärmung ist wichtig, weil es irreversible Schäden verhindern kann.
Klimaproteste auf den Philippinen 2023. picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Aaron Favila Klimaproteste auf den Philippinen 2023.

Seit Juni 2023 war jeder einzelne Monat global der wärmste seiner Art seit Beginn der Aufzeichnungen – teils mit deutlichem Abstand. Zugleich treiben steigende Emissionen den CO2-Gehalt der Atmosphäre weiter in die Höhe. Auch eine Grenze mit hoher Symbolkraft ist gefallen: Zwölf Monate lang, von Februar 2023 bis Januar 2024, lag die globale Durchschnittstemperatur mehr als 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau.

Das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens ist damit zwar noch nicht gerissen – denn die Klimawissenschaft denkt nicht in Jahren, sondern in Jahrzehnten. Geht es aber weiter wie bisher, wird das Ziel langfristig verfehlt.

Diese Aussicht kann demotivieren. Das ist die Gefahr ambitionierter Klimaziele, so richtig sie inhaltlich sind: Werden sie gerissen, kann die Klimabewegung an Antrieb verlieren. Nötig ist aber mehr Klimaschutz, um die Erhitzung so gering wie möglich zu halten und die größten Katastrophen zu verhindern. Jedes Zehntelgrad zählt. 1,6 Grad sind besser als 1,7 Grad – und 1,7 besser als 1,8.

Schon jetzt prägen Extremwetterereignisse die Existenz vieler Menschen. Mindestens 12 000 kamen im vergangenen Jahr durch klimarelevante Fluten, Stürme, Flächenbrände oder Erdrutsche ums Leben, wie die zivilgesellschaftliche Organisation Save the Children berichtet. Mehr als die Hälfte der Toten lebte in Ländern mit niedrigen oder niedrigen mittleren Einkommen.

Ohne konsequenteren Klimaschutz wird es noch schlimmer kommen. Je stärker sich die Erde erhitzt, desto wahrscheinlicher werden Punkte überschritten, an denen bestimmte Systeme kippen, sich also für lange Zeit unumkehrbar verändern. Schon beim aktuellen Grad der Erwärmung ist das laut Global Tipping Points Report möglich, etwa für die Eisschilde Grönlands und der westlichen Antarktis, Warmwasser-Korallenriffe und Permafrostregionen. Die Folgen wären desaströs. Sollte die bereits verlangsamte atlantische Umwälzbewegung (AMOC) enden, würde es voraussichtlich in Europa deutlich kühler, in Teilen der Südhalbkugel dagegen erheblich wärmer.

Unser Planet ist zu komplex, um Kipppunkte und mögliche Auswirkungen präzise vorherzusagen. Gerade weil wir nicht genug über diese Risiken wissen, müssen wir sie dringend mindern. Deutlich weniger Treibhausgase auszustoßen ist essenziell. Die Politik muss international Rahmenbedingungen für die Transformation zur klimaneutralen Wirtschaft schaffen. Sie muss den Wandel gerecht gestalten und Zumutungen verständlich erklären.

Absurd ist es dagegen, fossile Brennstoffe weiter zu subventionieren, wie es derzeit in Deutschland und Frankreich in der Debatte um den Agrardiesel gefordert wird. Das fördert nicht nur den Ausstoß klimaschädlicher Gase, sondern sendet auch das fatale Signal, es könne weitergehen wie bisher.

Mehr Kooperation und weniger Polarisierung sind nötig, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Kriege wie jene in der Ukraine und in Gaza sind dagegen nicht nur aus humanitärer, politischer und wirtschaftlicher Sicht fatal. Sie binden auch Aufmerksamkeit und Ressourcen, die der Klimaschutz dringend gebrauchen könnte.

Hoffnung macht, dass sich viele Menschen weltweit gegen die Krise stemmen. Die Zahl der Solaranlagen und Windräder steigt, und Gerichte zwingen immer wieder Staaten und Unternehmen, klimafreundlicher zu agieren. Die Motivation, den Planeten lebenswert zu halten, darf nicht nachlassen – selbst wenn das 1,5-Grad-Ziel tatsächlich fällt.

Jörg Döbereiner ist Redakteur bei E+Z/D+C.
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