Gewalt gegen Frauen
„Neue Männlichkeit soll Beziehungen ermöglichen, die auf Respekt basieren“
Frau Noya, Sie leiten das Centro Juana Azurduy (CJA) in Sucre und setzen sich dort insbesondere gegen Gewalt an Frauen ein. Das Problem ist riesig: Laut UNFPA ist in Bolivien jede dritte Frau zwischen 15 und 49 Jahren schon Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt geworden. Was hat das mit männlichen Rollenbildern zu tun?
Frauen haben das Recht auf ein Leben ohne Gewalt. Dieses Recht wird ihnen in unserer Gesellschaft jedoch nicht gewährt, und das liegt an den Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Sie sind in Bolivien von einem totalen Ungleichgewicht gekennzeichnet: Wir sehen Beziehungen von Unterdrückung und Unterwerfung, die aus Rollenstereotypen entstehen. Diese bestimmen die männliche und die weibliche Identität. Ihr Ursprung liegt im patriarchalen und auch im kolonialen System der Unterdrückung.
Was charakterisiert denn die männliche und weibliche Identität in unserer Gesellschaft?
Die weibliche Identität basiert auf Unterordnung sowie auf emotionaler, materieller und wirtschaftlicher Abhängigkeit von Männern. Die männliche Identität hingegen umfasst die Vorstellung, ein Anführer zu sein, von dem andere abhängig sind, der Entscheidungen trifft und Macht hat. Diese historische Konstruktion ist hunderte Jahre alt, auch wenn sie sich über die Zeit gewandelt hat.
Was hat sich verändert?
Heute ist die Frau nicht mehr Eigentum des Mannes; sie kann eigene politische und wirtschaftliche Entscheidungen treffen und hat auch Zugang zu Räumen der Macht. Trotzdem bestehen Abhängigkeiten aller Art fort, darunter emotionale, wirtschaftliche und politische. Solange Frauen keine volle Autonomie über ihr Leben, ihre Körper und ihre Entscheidungen haben, verharren wir in dieser Struktur der Ungleichheit.
Was ist in diesem Zusammenhang die Aufgabe von Männern?
Aus einer feministischen Perspektive heraus glauben wir, dass ein wirklicher Wandel in den Geschlechterbeziehungen sehr schwierig sein wird, wenn die männliche Identität nicht dekonstruiert wird und Männer diesen Veränderungsprozess für sich selbst annehmen. Deshalb reden wir davon, eine neue Männlichkeit zu schaffen, die nicht unterdrückend, aggressiv und gewalttätig ist – und die nicht vom Gefühl geprägt ist, Macht über Frauen zu besitzen. Diese Macht ist so weitreichend, dass sie die Psyche und das Leben von Frauen bedroht. Eine neue Männlichkeit soll Beziehungen ermöglichen, die auf Gleichberechtigung und Respekt basieren und frei von Gewalt sind.
Das CJA arbeitet schon lange zu diesem Thema. Haben Sie über all die Jahre Veränderungen in Bezug auf das Männlichkeitsbild in der bolivianischen Gesellschaft festgestellt?
In einigen Fällen gab es Veränderungen, aber einen generellen gesellschaftlichen Wandel zu erreichen, ist sehr schwierig. Aber ja, unsere Arbeit trägt Früchte. Wir können die Wirkung ganz gut messen, weil wir mit männlichen Tätern arbeiten. Wir haben eine Kooperation mit den regionalen Strafverfolgungsbehörden: Sie schicken uns Männer, die Gewalt gegen Frauen ausgeübt haben und deshalb strafrechtlich verfolgt werden. Bei uns durchlaufen sie eine Psychotherapie.
Warum dieser therapeutische Ansatz?
Rechtlich ist es so: Ein Mann, der wegen häuslicher Gewalt angeklagt ist, kann unter bestimmten Voraussetzungen eine Aussetzung seines Verfahrens oder seiner Strafe erreichen. Eine dieser Voraussetzungen ist eine Psychotherapie. Das Ziel ist, dass die Täter lernen, ihre Wut zu kontrollieren. Sie sollen sich bewusst machen, dass ihr gewalttätiges Verhalten Teil der Konstruktion einer hegemonialen Männlichkeit ist. Sie sollen anerkennen: „Ja, ich bin Täter, weil ich ein Mann bin und weil ich glaube, dass Frauen weniger wert sind als ich.“ Sie lernen bei uns, dass sie diese Vorstellung verändern müssen, um gesündere Beziehungen führen zu können.
Das ist ein großes Ziel. Wie gehen Sie vor?
Die Therapie umfasst zehn Gruppen- und zehn Einzelsitzungen mit jedem Teilnehmer. Am Anfang und am Ende des Prozesses gibt es einen Test, um festzustellen, inwieweit die Männer das Problem verstehen und sich ihre gewalttätigen Einstellungen eingestehen. Einen tiefgreifenden Wandel zu messen, ist schwierig, denn Verhaltensänderungen zeigen sich erst über lange Zeiträume. Was wir aber sagen können: Am Ende der Therapie bei uns erkennen hundert Prozent der Männer an, dass sie ein machistisches Verhalten zeigen, und ein Teil von ihnen ist bereit, das zu ändern.
Die Therapien für Straftäter sind nur ein Teil der Arbeit von CJA. Das übergeordnete Ziel ist es, Diskriminierung gegen Frauen abzubauen. Wie hängt beides zusammen?
Für uns bedeutet die Überwindung des Patriarchats, mentale, soziale, kulturelle und institutionelle Strukturen abzubauen, die die Macht des Mannes über die Frau aufrechterhalten. Dabei geht es nicht nur darum, Gesetze oder Diskurse zu verändern. Es geht auch um Veränderungen im täglichen Leben, in den familiären Beziehungen und in den Denkweisen, die tief in der Gesellschaft verwurzelt sind. Wir alle wurden in einem patriarchalen System sozialisiert. Daher müssen Männer wie Frauen machistische Verhaltensweisen und Werte hinterfragen und entlernen.
Ihnen ist neben der Abkehr vom Patriarchat auch Dekolonialisierung wichtig. Wie hängt beides zusammen?
Das Patriarchat entstand nicht von selbst: Es kam mit der Kolonisierung. Sie zwang uns eine Weltsicht auf, in der der männliche, weiße, westliche Mensch mehr Wert war. Wenn wir von Dekolonisierung sprechen, meinen wir eine Rückbesinnung auf unsere eigenen Kulturen, Sprachen und Lebensweisen – auch auf die Beziehungsformen, die bei den Indigenen Völkern vor der Kolonisierung existierten. Dort herrschte zum Beispiel ein Prinzip der Komplementarität von Männern und Frauen vor, nicht der Unterordnung. In unserer Arbeit mit Gewalttätern gehen wir Entpatriarchalisierung und Dekolonisierung parallel an. Die Männer müssen verstehen, dass ihre Macht und ihre Privilegien nicht naturgegeben sind, sondern gesellschaftliche Konstrukte, die verändert werden können und müssen. Dadurch werden nicht nur die Frauen befreit, sondern auch die Männer. Die neue Männlichkeit erlaubt ihnen, menschlicher und sensibler zu sein und dem Zwang zu Gewalt und Herrschaft zu entkommen. Wenn ihnen erst einmal klar wird, wie sehr der Machismus ihr Leben bestimmt, eröffnet sich die Möglichkeit für wirklichen Wandel.
Martha Noya leitet die Frauenrechtsorganisation Centro Juana Azurduy in Sucre, Bolivien.
Centro Juana Azurduy – Empoderar para despatriarcalizar
Betty Rosa Choque ist eine bolivianische Journalistin.
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