Vernachlässigte Tropenkrankheiten

Im Schatten der „Großen Drei“

Bei wichtigen Infektionskrankheiten im globalen Süden denken die meisten unweigerlich an die „Großen Drei“: HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose. Doch die Situation ist deutlich differenzierter. Auch deshalb wurde zu Beginn des neuen Millenniums der Begriff der „vernachlässigten Tropenkrankheiten“ geprägt. Einige von ihnen tauchen mittlerweile zusätzlich in Industrieländern auf, mit Folgen für die Forschung.
Tests zum Nachweis von Schistosomiasis-Parasiten, einer Wurmerkrankung, in Simbabwe im Jahr 2023. picture-alliance/Xinhua News Agency/Tafara Mugwara Tests zum Nachweis von Schistosomiasis-Parasiten, einer Wurmerkrankung, in Simbabwe im Jahr 2023.

Die globale Gesundheitsversorgung ist von starker Ungleichheit geprägt. Dies gilt für nicht übertragbare Erkrankungen ebenso wie für Infektionskrankheiten. Die Gründe für diese Schräglage sind vielfältig. Ein wichtiger ist die Ausrichtung kommerzieller medizinischer Forschung auf hohe Gewinnerwartungen statt auf die real bestehenden Gesundheitsbedürfnisse der Menschen.

Die dadurch entstehenden Forschungslücken zeigen sich folgerichtig besonders bei Armutserkrankungen, zum Beispiel den vernachlässigten Tropenkrankheiten (NTDs – Neglected Tropical Diseases). Das Interesse an ihnen hält sich im globalen Norden traditionell in Grenzen. NTDs sind vor allem in Lateinamerika, Asien und Afrika verbreitet. Klimawandel und Globalisierung nötigen jedoch politisch Handelnde und die Bevölkerung in Industrieländern verstärkt dazu, sich ebenfalls intensiver damit auseinanderzusetzen.

NTDs sind facettenreich

Vernachlässigte Tropenkrankheiten betreffen zumeist arme Menschen in ländlichen Regionen, besonders gefährdet sind Frauen und Kinder. Oft sind es chronische Erkrankungen. Sie gehen fast ausschließlich auf Infektionen zurück und treten nicht selten parallel auf, so dass Patient*innen an Koinfektionen leiden.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) führt eine Prioritätenliste für NTDs mit momentan 21 Einträgen. Darunter sind bekanntere Krankheiten wie Lepra und Krätze, doch auch viele wenig beachtete wie Frambösie und das Myzetom. Daraus sollte jedoch nicht abgeleitet werden, dass sie unwichtig wären: In Deutschland mag der Großteil der Bevölkerung noch nie vom Trachom gehört oder gelesen haben, doch ist es die weltweit häufigste infektiöse Ursache für Blindheit.

Neben Bakterien und Viren können auch verschiedene Würmer, Einzeller, Ektoparasiten und Pilze für einzelne NTDs eine Rolle spielen. Infektionszyklen gestalten sich mitunter komplex und schließen neben dem Menschen auch Wild- und Nutztiere ein. Bei der Schistosomiasis, einer Wurmerkrankung, sind etwa Süßwasserschnecken als Zwischenwirt elementar. Sie ist – wie mehrere NTDs – eine Zoonose. So werden Erkrankungen genannt, die von Tieren auf Menschen und umgekehrt übertragen werden können.

Einen Spezialfall in vielerlei Hinsicht bilden Vergiftungen durch Schlangenbisse. Hier überträgt das Reptil, etwa eine Indische Kobra oder eine Sandrasselotter, direkt Toxine – Betroffene sind danach jedoch nicht ansteckend.

Verbindung von NTDs zu Armut und Gender

NTDs sind weltweit verbreitet, bei signifikanten regionalen Unterschieden. Während etwa die Drakunkuliasis, die auf den sogenannten Medinawurm zurückgeht, nur noch in einer Handvoll Staaten bei Menschen festgestellt wird, tritt Lepra laut WHO immer noch in mehr als 120 Ländern auf. Laut WHO-Daten tragen allerdings 16 Länder 80 Prozent der gesamten NTD-Krankheitslast, darunter Ägypten, Tansania und die Philippinen. Insgesamt erschwert eine oft schlechte Datenlage die Übersicht und damit auch zielgerichtete Gegenmaßnahmen.

Was vernachlässigte Tropenkrankheiten eint, ist ihre enge Verbindung zu Armut und deren komplexen Folgen. Eine große Bedeutung hat der mangelhafte Zugang zu sauberem Trinkwasser und adäquater Abwasserinfrastruktur. Da in vielen Gesellschaften wasserbezogene Aktivitäten wie Wassertransport, Waschen und Kochen primär Mädchen und Frauen zugeteilt werden, besteht ein direkter Einfluss von Gender auf Infektionsrisiken. Eine weitere wichtige Facette von Genderrollen: Kinder- und Krankenbetreuung wird weltweit hauptsächlich von Mädchen und Frauen ausgeübt, was eine NTD-Ansteckung ebenfalls wahrscheinlicher macht.

Ein besonders drastisches Beispiel für die Auswirkungen extremer Armut stellt Noma dar, auch „Wangenbrand“ genannt. Diese bakterielle Erkrankung entwickelt sich vor allem im Gesicht kleiner Kinder schnell und zerstörerisch. Ihre Ursachen finden sich in Unterernährung, Hygieneproblemen und vorangegangenen Erkrankungen, etwa den Masern. Noma tritt in stark unterversorgten Gegenden auf, in denen Gesundheitsleistungen oft schlecht verfügbar sind – was auch für viele weitere NTDs gilt.

Klaffende Forschungslücken

Verschärfend kommt hinzu: Unsere medizinischen Gegenmittel gegen solche Erkrankungen sind zumeist stumpf oder fehlen mitunter ganz. Und das, obwohl die Menschheit einige von ihnen, beispielsweise die Tollwut, bereits vor der Antike kannte. Die ehemalige Chefin des WHO-NTD-Programms Mwelecele Ntuli Malecela stellte einmal treffend fest, man nutze in diesem Arbeitsfeld im 21. Jahrhundert noch Werkzeuge aus dem 19. Jahrhundert.

Viele Medikamente, die gegen NTDs verwendet werden, sind alt, haben gravierende Nebenwirkungen oder sind nicht für alle Patient*innen geeignet. Durch den großflächigen, auch präventiven Einsatz einiger weniger Medikamente begegnen wir zudem besorgniserregenden Resistenzentwicklungen. Bei der Diagnostik zeigen sich teils noch größere Lücken. Gerade geeignete Schnelltests existieren oft nicht, obwohl sie in strukturschwachen Gegenden elementar wichtig wären.

Auch Impfstoffe fehlen fast komplett. Eine Ausnahme bildet hier das Dengue­fieber. Für parasitäre Krankheiten sind Impfstoffe jedoch leider schwer zu entwickeln. Besonders dramatischen Problemen begegnen Menschen im globalen Süden, die von giftigen Schlangen gebissen werden oder Speikobras begegnen, die spucken. Trotz zehntausender Todesfälle jährlich herrscht in vielen Ländern extremer Mangel an geeigneten und bezahlbaren Gegengiften.

Öffentliche Förderung ist ­unersetzlich

Betrachtet man die Gelder für NTD-Forschung, wird schnell ein weiteres Mal deutlich, warum der Blick bei Infektionskrankheiten im globalen Süden über die „Großen Drei“ hinausgehen muss. Fachanalysen weisen extreme Differenzen in der finanziellen Förderung aus. Daten des Projekts G-FINDER, das Investitionen in Forschung und Entwicklung untersucht, zeigen auf, dass 2022 allein in die Sparte Impfstoffforschung gegen Malaria ungefähr so viel Geld floss wie in die gesamte Forschung (Diagnostik, Medikamente, Impfstoffe etc.) zu Chagas, Leishmaniose und Schlafkrankheit zusammen.

Einige kommerzielle Firmen nutzen das Themenfeld NTDs mittlerweile verstärkt beim Versuch, ihr Image zu verbessern. Hier lohnt sich ein kritischer Blick, beispielsweise auf die Nachhaltigkeit von Medikamentenspenden. 

Unstrittig ist, dass der Großteil an NTDs aus der Warte von Unternehmen mit ausgeprägter Profitorientierung nicht genügend monetäre Anreize bietet, um in gezielte Forschung zu investieren – zumindest nicht beim Menschen. Bei der Bandwurmerkrankung Echinokokkose beispielsweise lässt sich mit Blick auf betroffene Tiere möglicher Weise eher auf Innovationen aus der kommerziellen Forschung hoffen. Denn Mittel gegen Produktionsausfall bei landwirtschaftlichem Nutzvieh wecken durchaus Gewinnerwartungen.

Letztlich ist die Bedeutung öffentlicher Forschung und Forschungsfinanzierung bei NTDs nicht zu überschätzen, um die Lücken so gut es geht zu füllen. An öffentlichen Hochschulen und mit Steuergeldern wird weltweit, zunehmend in Kooperationen, an epidemiologischen Studien und „Werkzeugen für das 21. Jahrhundert“ gearbeitet. Diese Aktivitäten sind unersetzlich, weshalb sie auch in Zeiten vielerorts knapper Kassen angemessen zu finanzieren sind.

Die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs – Sustainable Development Goals) beinhalten unter SDG3 (Gesundheit und Wohlergehen) ambitionierte Vorhaben zu NTDs generell und sehr prominent die Vision einer Gesundheitsversorgung für alle (UHC – Universal Health Coverage). Dieses Ziel hat nicht zuletzt für Menschen mit NTDs eine elementare Bedeutung. Da Armutskrankheiten zumeist marginalisierte Bevölkerungsteile treffen, deren Stimmen selten Gehör finden, sind sie eine Nagelprobe dafür, wie ernst wir es wirklich meinen mit globaler Gesundheitsgerechtigkeit. Und diese schließt Forschungsgerechtigkeit unmittelbar mit ein.

Links

WHO zu vernachlässigten Tropenkrankheiten:
https://www.who.int/news-room/questions-and-answers/item/neglected-tropical-diseases

Projekt G-FINDER:
https://www.policycuresresearch.org/g-finder/

BUKO Pharma-Kampagne:
https://bukopharma.de/de/vernachlaessigte-tropenkrankheiten

Max Klein ist Politikwissenschaftler und leistet Bildungsarbeit für die deutsche zivilgesellschaftliche Organisation BUKO Pharma-Kampagne, auch zu vernachlässigten Tropenkrankheiten.
mk@bukopharma.de

Gendergerechtigkeit

Um Gleichberechtigung der Geschlechter zu erreichen, gilt es, Frauen und Mädchen zu stärken.

Governance

Um die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen, ist gute Regierungsführung nötig – von der lokalen bis zur globalen Ebene.