Entwicklung und
Zusammenarbeit

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Unsere Sicht

Allzu „schlanke“ Staaten sind ein Albtraum

Marktliberale träumen von einem „schlanken“ Staat, denn sie meinen, Steuern und Regulierungen reduzierten die Effizienz wirtschaftlicher Transaktionen. Was theoretisch plausibel klingen mag, funktioniert in der Praxis aber nicht. Wo der Staat keine Rolle spielt, herrscht das Recht des Stärkeren.

Im informellen Sektor wird das deutlich. Seine Betriebe sind weder angemeldet noch Regulierungen unterworfen. Rechtssicherheit, was die Einhaltung von Verträgen angeht, gibt es nicht. Folglich werden wichtige Geschäftsbeziehungen gern auf engvertraute Personen begrenzt. Informelle Arbeitgeber beschäftigen Angehörige und leihen sich Geld von Verwandten. Sie suchen weder die fähigsten Kräfte noch optimierte Finanzierungen. Investitionen fallen schwer, also bleiben die Unternehmen klein, arbeitsintensiv und wenig produktiv. Entsprechend mager sind Gewinne und Löhne.

Gesetze bieten keinen Schutz, weil sie entweder nicht oder nur selten angewendet werden. Arbeitsschutz, Umweltschutz, Urlaub? Fehlanzeige. Teils gelten lokale Traditionen und gemeinschaftliche Normen. Städte sind heute aber multikulturell – und zwar besonders in Entwicklungsländern. Die Menschen sprechen unterschiedliche Sprachen, folgen unterschiedlichen Religionen und gehören unterschiedlichen Stämmen oder Kasten an. Solidarität herrscht oft innerhalb solcher Gruppen, anderen gegenüber wird aber kaum Verpflichtung empfunden. Meist zahlen informelle Betriebe Schutzgelder an mafiaähnliche Organisationen.

Im ländlichen Raum sind die Dinge etwas anders, aber wo Behörden wenig Einfluss nehmen, dominieren häufig traditionelle Eliten. Die Lebensweise von Familien mit kleinen landwirtschaftlichen Höfen ist häufig auch informell. Andererseits gibt es selbst in Ländern mit hohen Einkommen Nischen informeller Tätigkeit. Migrantinnen ohne oder dubiosem Rechtsstatus putzen viele europäische Städte.

Ausgeprägter Dualismus

Wo der informelle Sektor groß ist, herrscht ausgeprägter Dualismus. Dieser Begriff beschreibt Verhältnisse, in denen traditionelles und formelles Recht nebeneinander bestehen und selektiv gelten. Von Rechtsstaat kann dann nicht sinnvoll die Rede sein, denn die Gesetzgebung passt auf wichtige Aspekte des gesellschaftlichen Lebens nicht.  

Informelle Stadtviertel wachsen beispielsweise ungeplant und ohne Rücksicht auf Gesetze. Hunderte Millionen von Menschen leben in ihnen. Manchmal räumen Behörden solche Slums mit dem Hinweis, sie seien illegal. In solchen Situationen verletzt formales Recht grundlegende Menschenrechte. Der Staat ist dann immer noch das repressive Instrument der Kolonialzeit.

Vielfach zählt nur, was gezählt wird. Der informelle Sektor generiert aber kaum Daten. Ungenügendes Verständnis der Lebenswirklichkeit großer Bevölkerungsgruppen erschwert kluge Politikgestaltung erheblich.

Wo Dualismus ausgeprägt ist, ist der Staat schwach. Sein Repressionsapparat mag stark erscheinen, aber er kann wesentliche moderne Funktion nicht erfüllen. Ausreichende, wirksame und faire Steuererhebung ist nicht möglich, und folglich fehlt es an Geld für solide Infrastruktur, gute Schulen und zuverlässige Gesundheitsversorgung. Eine moderne funktional differenzierte Gesellschaft braucht dagegen einen kompetenten Staat, der Chancen schafft und auf Nöte reagiert (siehe hierzu meinen Beitrag auf www.dandc.eu). Fortschritt wird möglich, wenn das, wovon Menschen abhängen, rechtlich anerkannt wird und auf dieser Basis Reformen vorgenommen werden, um die Lebensverhältnisse zu verbessern.


Hans Dembowski ist Chefredakteur von E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit / D+C Development and Cooperation.
euz.editor@dandc.eu