Weltwirtschaft
Härteste Probe der multilateralen Weltordnung seit 1945
In den vergangenen Jahrzehnten schien Globalisierung im Sinne zunehmender Integration der Weltwirtschaft wie eine Naturgewalt. Das ist vorbei. Der Ukrainekrieg läutet möglicherweise das Ende der Globalisierung ein. Selbst Christine Lagarde, die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) und ehemalige Spitzenmanagerin des Internationalen Währungsfonds (IWF), hat Zweifel an der Zukunft der integrierten Wirtschaft geäußert. 2020 prophezeite die prominente Volkswirtin Carmen Reinhart, Covid-19 werde sich als Sargnagel des Globalisierungszeitalters erweisen.
Den vielen Pessimisten geben schwere Störungen internationaler Lieferketten recht. Tatsächlich konzentrieren sich Politiker wieder auf nationale und regionale Chancen. Die Pandemie hat das Interesse an heimischer Beschaffung wesentlicher Güter verstärkt. Der Trend kann zu weltweiter Deglobalisierung und geringerem Wachstumspotenzial führen.
Welle des Misstrauens
Obendrein hat der Ukrainekrieg Misstrauen ausgelöst, was westliche Staaten mit neuartigen Sanktionen gegen Russland verstärkt haben. Ihre Zentralbanken froren russische Vermögenswerte ein, und einige russische Banken wurden vom Transaktionssystem SWIFT ausgeschlossen. Das war so etwas wie eine ökonomische Kriegserklärung. Unabhängig davon, wie sie zu Russland stehen, treibt Regierungen von Schwellenländern nun die Sorge um, sie könnten selbst eines Tages von ähnlich koordinierten Schritten betroffen sein.
Die Weltlage ist beunruhigend. Nach dem Ende des Kalten Krieges schuf der schnell wachsende Welthandel in Verbindung mit deregulierten Finanzsystemen starke internationale Verbindungen. Dieses System steht nun vor dem Kollaps. Weltweit ist die Finanzstabilität bedroht, und eine globale Rezession ist wahrscheinlich. Lange Zeit schritt die Globalisierung kontinuierlich voran – angetrieben von marktorientierter Politik, schnellem technischen Wandel und günstigen geopolitischen Trends. 2008 brachte aber die Pleite der Investmentbank Lehman Brothers in New York die Weltwirtschaft zum Stillstand. Die folgende Finanzkrise weckte Zweifel an dem Versprechen ständig expandierenden Handels und wachsenden Wohlstands.
G20 – damals und heute
Die Spitzenpolitiker der 20 größten Volkswirtschaften (G20) stimmten seinerzeit Konjunkturprogramme miteinander ab, um eine globale Depression zu verhindern. Schwellenländer waren von der Krise weniger stark betroffen und taugten zu Lokomotiven des Aufschwung. Westliche Spitzenpolitiker erkannten ihre Bedeutung an. Allerdings blieb die wirtschaftliche Erholung in Ländern mit hohen Einkommen lange schwach, wozu auch die Euro-Krise beitrug.
Heute lässt sich sagen, dass die G20 2008/09 eine Weltdepression verhinderte, die Mitgliedsländer ihre Politik aber bald wieder an nationalen Interessen ausrichteten. Vor allem wurde der Wettbewerb zwischen den USA und China destruktiver. Heute wirkt das G20-Format verbraucht. Die Auseinandersetzung darüber, ob Russland noch mitmachen soll, macht das besonders deutlich. Dabei ist weltweite Abstimmung heute vermutlich wichtiger denn je.
Zurück nach Bretton Woods
Mit Blick auf Covid-19 und Klima sprach Kristalina Georgieva, die neue Spitzenfrau des IWF, 2020 von einem neuen „Bretton-Woods-Moment“. Sie spielte auf den Ort in Nordamerika an, wo eine internationale Konferenz am Ende des Zweiten Weltkriegs die Gründung von IWF und Weltbank beschloss. Es ging darum, künftig katastrophale Weltdepressionen wie die der 1920/30er Jahre unmöglich zu machen (siehe Hans Dembowski auf www.dandc.eu). Zu diesem Zweck sollten die beiden neuen Weltinstitutionen mit Einlagen der Mitgliedsländer in Krise geratene Volkswirtschaften so unterstützen, dass die Probleme nicht auf andere übergriffen.
2020 stellte Covid-19 aus Sicht von Georgieva die weltweite Verbundenheit und Verflechtung infrage. Die Pandemie griff schnell um sich. Grenzen wurden geschlossen. Die Regierungen der Länder mit hohen Einkommen starteten riesige Konjunkturprogramme mit Ausgaben für Gesundheit, soziale Sicherung und Wirtschaftsförderung. Die IWF-Managerin forderte, Klimaprobleme ähnlich entschlossen anzugehen, und wies darauf hin, dass auch Staaten mit schwacher Finanzkraft handeln müssten. Ihre Botschaft war: Staatsausgaben müssen steigen, nicht sinken (siehe hierzu meinen Beitrag auf www.dandc.eu).
Zentral waren ihr zufolge Gesundheits- und Sozialpolitik, nachhaltige Infrastruktur und breit angelegte Bildung. All das war ihr offensichtlich wichtiger als Sorgen über wachsende Staatsschulden. Der Paradigmenwechsel des IWF von Sparpolitik hinzu mehr Staatsinterventionen war seit der Finanzkrise kontinuierlich vollzogen worden.
Fragen der globalen Finanzarchitektur
Weltbankpräsident David Malpass sah die Dinge ähnlich. Als vordringlich für eine stabile Erholung bezeichnete er 2020 Maßnahmen gegen Armut, Ungleichheit und Klimawandel sowie für Humankapital, Schuldenerlasse und wirtschaftliche Anpassungsfähigkeit.
Theoretisch ist global koordinierte Politik für diese Ziele möglich. Ob das auch in der Praxis stimmt, ist fraglich. Wichtige Aspekte der internationalen Finanzarchitektur erfordern Neujustierung. Dabei geht es etwa um Bedingungen für Schuldenerlass (siehe hierzu Kathrin Berensmann auf www.dandc.eu), faire Klimafinanzierung oder wirksame Entwicklungshilfe (ODA – official development assistance).
Im Rückblick war der globale Corona-Abschwung erstaunlich mild. Die Börsen brachen zeitweilig ein, und auch der Ölpreis sank kurzfristig unter null. Es ging aber bald wieder bergauf. Das lag großenteils daran, dass die Konjunkturprogramme vieler Staaten sich gegenseitig verstärkten. Sie gingen gleichzeitig dieselben Probleme mit ähnlichen Mitteln an und wirkten folglich wie eine globale Stimulierungspolitik. Sie erwies sich sogar als exzessiv, als beim Auslaufen der Lockdowns Inflation einsetzte.
Der Mangel an internationaler Zusammenarbeit schlug sich auch anderweitig negativ nieder. Regierungen mit kleinem Finanzspielraum konnten ihre Volkswirtschaften nicht stimulieren, woran die zeitweilige Aussetzung des Schuldendienstes durch die G20 wenig änderte. Problematisch war auch die unfaire Verteilung von medizinisch wichtigen Ressourcen. Das galt dann später auch für Impfstoffe, als diese verfügbar wurden. Länder mit niedrigen und mittleren Einkommen wurden zurückgelassen.
Weltsystem im Krisenmodus
International ist die Ungleichheit gewachsen, und wichtige Lieferketten bleiben unterbrochen. Das Weltsystem bleibt also im Krisenmodus. Der Ukrainekrieg schafft zusätzliche Probleme. Verbunden mit hoher Inflation, turbulenten Börsen und fortdauernden Coronafolgen ist das explosiver, und die Brandgefahr wächst durch die zunehmend dramatischen Folgen der globalen Erhitzung. Georgieva spricht mittlerweile von „möglicher Konvergenz der Notlagen” und sieht die Weltwirtschaft auf die „ härteste Probe seit dem Zweiten Weltkrieg“ gestellt.
Globale Probleme erfordern globale Lösungen. Dass nationalstaatliche Systeme und Wertvorstellungen erheblich variieren, darf Spitzenpolitiker nicht vom globalen Gemeinwohl ablenken. Multilaterale Institutionen sind wichtig, aber sie sind nur so stark, wie ihre Mitgliedsländer sie machen.
Unverzichtbare Supermächte
Zentrale Bedeutung hat die Wiederbelebung eines konstruktiven Dialogs zwischen USA und China. Zusammen können die beiden Supermächte eine Führungsrolle einnehmen. Erwachsener Austausch zwischen ihnen mag im Moment unwahrscheinlich erscheinen, ist aber möglich. Beide Seiten wissen, dass ihre Länder erheblich vom Weltmarkt profitiert haben und bei Desintegration viel zu verlieren hätten.
Vielleicht erweist es sich auch als nützlich, dass chinesische Kredite mittlerweile zur Überschuldung von Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika beitragen. Der aktuellen Staatspleite Sri Lankas (siehe Arjuna Ranawana auf www.dandc.eu) kkönnen weitere folgen, und solche Problem lassen sich nicht mehr pauschal dem Westen vorwerfen. Vielversprechend ist zudem, dass China bislang westliche Sanktionen gegen Russland zwar nicht unterstützt, aber auch nicht verurteilt hat. Es dürfte also Spielraum geben für Zusammenarbeit bei Themen, die alle betreffen. Besonders wichtig ist es, Hungersnöte zu verhindern. Unsicherheit und Fragmentierung belasten insbesondere Länder mit niedrigen und mittleren Einkommen.
Das System politischer Beziehungen muss korrigiert werden. Im Zweifel müssen Allianzen gemeinsame Anliegen verfolgen, selbst wenn nicht alle großen Mächte mitmachen. Der Klimawandel ist ein dringendes Problem, das keine Grenzen akzeptiert. Die Menschheit braucht klare gemeinsame Regeln für Sicherheit, Handel, Investitionen, Technologietransfer und saubere Energie.
José Siaba Serrate ist Wirtschaftswissenschaftler an der Universität von Buenos Aires sowie der dortigen Privatuniversität UCEMA. Er ist zudem Mitglied des Argentinischen Rats für Internationale Beziehungen (CARI).
josesiaba@hotmail.com