Frauen
U-förmige Verteilung
An einem Morgen im Herbst in Neu-Delhi verlassen Frauen der Altersgruppe 18 bis 35 ein Hostel. Manche gehen zu den nahe gelegenen Universitäten, andere eilen zur U-Bahn-Station oder versuchen eine Autorikscha zu erwischen, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen.
In dem Hostel, von denen es viele in Indiens Städten gibt, leben ausschließlich Frauen, die ein Karriereziel verfolgen. Dass junge Frauen ihr Elternhaus aus einem anderen Grund als der Heirat verlassen, ist neu, aber weit verbreitet.
Yashika ist eine der Hostelbewohnerinnen in Neu-Delhi. Ihre Mutter ist Hausfrau, ihr Vater Geschäftsmann in Hanumangarh, einem kleinen Distrikt im Nachbarbundesstaat Rajasthan. Yashika wollte Kunst studieren und hat in Hanumangarh keine Möglichkeiten dafür gesehen. Sie konnte ihre Eltern dazu überreden, sie an der Kunsthochschule in Delhi studieren zu lassen. Yashika weiß noch nicht, was sie nach ihrem Abschluss machen will, sieht aber zwei Möglichkeiten: „Ich werde versuchen, ein Stipendium für ein weiterführendes Studium im Ausland zu bekommen. Oder ich arbeite für irgendeine Werbeagentur in Mumbai.“
Auch Shailesh ist vom Land in die Stadt gezogen. Heute arbeitet sie als Wissenschaftlerin beim staatlichen Wetterdienst. „Zurzeit arbeite ich an dem meteorologischen Projekt INSAT-3D“, sagt sie. Darüber will sie ihre Doktorarbeit schreiben. Danach würde auch sie Indien am liebsten verlassen. Ihr Traum ist ein Job bei der Japan Agency for Marine-Earth Science and Technology.
Yashika und Shailesh gehören zu den jungen Frauen mit hohen beruflichen Zielen. Die Frage ist, ob sie diese auch erreichen. In einigen Bereichen sieht es tatsächlich gut aus. Beispielsweise sind heute in Indien fast 12 Prozent der Piloten Frauen, während es weltweit nur drei Prozent sind. Auch an der Spitze der wichtigsten privaten und öffentlichen Banken Indiens stehen Frauen. In Wissenschaft und Technik, Ingenieurwesen und Mathematik beschäftigen indische Firmen einen größeren Frauenanteil als US-amerikanische.
Diese Zahlen sind ermutigend, bilden aber nur einen Teil der Wirklichkeit ab. Nach Angaben der internationalen Arbeitsorganisation ILO gehört die indische Frauenerwerbsquote zu den niedrigsten weltweit. In Südasien liegt Indien nur vor Pakistan und Afghanistan und damit auf dem sechsten von acht Plätzen. Den Ambitionen vieler Frauen wird also offenbar keine Rechnung getragen. Tatsächlich ist die Arbeitslosenquote von in der Stadt lebenden Akademikerinnen am höchsten.
Aus dem Kelly Global Workforce Index geht hervor, dass indische Frauen häufig in der Mitte ihrer Laufbahn aufgrund der Doppelbelastung ihren Job aufgeben. Dies rührt daher, dass sowohl Männer als auch Frauen Familie und Haushalt vor allem als Frauensache ansehen. Die 30-jährige Mansi, die in Kolkata lebt, war leitende Angestellte in einer IT-Firma, hörte aber auf zu arbeiten, als ihr Baby kam. Viele arbeitende Paare bekommen heute nur ein Kind, aber es ist immer noch üblich, dass die Frau dann zu Hause bleibt.
Die meisten jungen Inder – Frauen und Männer – wollen heutzutage arbeiten und sozial aufsteigen. 2020 wird der durchschnittliche Inder voraussichtlich 29 Jahre alt sein und in der Stadt leben. Zurzeit ist rund ein Drittel der urbanen Bevölkerung unter 35 Jahre alt. Auch wenn die Wirtschaft weltweit schwächelt, gehen internationale Ökonomen davon aus, dass Indien vergleichsweise gut dastehen wird. In den vergangenen Jahren lag das Wachstum bei um die sieben Prozent.
Wachstum bedeutet zumeist, dass mehr Menschen arbeiten – auch Frauen. Doch in Indien fiel die Frauenerwerbsquote zwischen 2004 und 2010 auf dem Land von 33,3 auf 26,5 Prozent und in den Städten von 17,8 auf 14,6 Prozent. Laut ILO liegt das zum einen daran, dass mehr Frauen Bildung genießen, und zum anderen an gestiegenen Einkommen für Männer. Gleichzeitig mangelt es an Arbeitsplätzen für höher Qualifizierte. Das trifft zwar beide Geschlechter, doch Frauen haben häufiger Schwierigkeiten, einen Job zu finden.
Gut ausgebildete städtische junge Leute streben in den formellen Sektor. Offiziellen Zahlen zufolge liegt die Arbeitslosenquote von Frauen zwischen 15 und 59 Jahren bei 16 Prozent – gegenüber nur neun Prozent bei Männern. Für Frauen ist es demnach schwieriger, einen angemessenen Job zu finden. Die Beratungsfirma Mercer International hat herausgefunden, dass junge Frauen 40 Prozent der Berufseinsteiger im formellen Sektor ausmachen, aber nur zu 20 Prozent im mittleren Management und zu zehn Prozent in der Führungsebene vertreten sind.
Andererseits ist der Anteil von Mädchen, die die Schule besuchen, dank der Arbeit der Regierung in den vergangenen Jahrzehnten stark angestiegen. Das gilt sowohl für Grund- als auch für weiterführende Schulen. Die Zahl der Kinder, die gar nicht zur Schule gehen, sank um mehr als 90 Prozent. Doch nach wie vor verlassen viele Mädchen als Teenager die weiterführende Schule, vor allem, weil sie Aufgaben im Haushalt übernehmen müssen. Zudem ist das Heiratsalter sowohl auf dem Land als auch in der Stadt nach wie vor recht niedrig. Es gibt in Indien immer noch 265 Millionen erwachsene Analphabeten, und mehr als zwei Drittel von ihnen sind Frauen.
Sirisha C. Naidu, Wirtschaftsprofessorin an der Wright State University in den USA, sagt: „Die Frauenerwerbsquote wird zumeist als U-förmige Kurve wahrgenommen – sie ist hoch in Ländern mit sehr niedrigem oder sehr hohem Entwicklungsstand und niedrig in Ländern mit mittleren Entwicklungsständen.“
Kaum Chancen auf dem Land
In Schwellenländern wie Indien, die auf dem Weg von der Agrarwirtschaft zur Industriewirtschaft sind, bedeuten mehr Jobs außerhalb der Landwirtschaft für Männer, dass die Haushaltseinkommen steigen und Frauen weniger genötigt sind, schlecht bezahlte Jobs anzunehmen. Früher arbeiteten sowohl Männer als auch Frauen in der Landwirtschaft, aber zunehmender Maschineneinsatz macht viele Arbeitskräfte überflüssig. Trotz dieser Entwicklungen wollen die meisten Frauen nicht zu Hause bleiben, sondern Geld verdienen. Ihnen fehlen jedoch angemessene Jobmöglichkeiten. Das trifft auf ungelernte wie auf gut ausgebildete Frauen zu.
Manche Frauen ziehen auf der Suche nach Arbeit vom Land in die Stadt. Dort arbeiten sie im Haushalt, als Putzfrauen oder Verkäuferinnen. Zumeist sind das Jobs im informellen Sektor, die wenig Sicherheit bieten. Die meisten der Frauen in ländlichen Gebieten bleiben jedoch in den Dörfern, denn das Stadtleben wird als gefährlich wahrgenommen. Auf dem Land finden sie keine adäquate Arbeit. Dabei spielen Vorurteile eine große Rolle. Archana Pandey, die für eine NGO arbeitet, die junge Frauen für den Arbeitsmarkt in Uttar Pradesh ausbildet, einen der ärmsten Bundesstaaten Indiens, berichtet: „Wir haben oft erlebt, dass Männer ihren Töchtern, Frauen und Schwiegertöchtern nicht erlauben, ihr Dorf für eine Ausbildung und anschließende Arbeit zu verlassen.“
Indien muss den Anteil der Frauen an der arbeitenden Bevölkerung erhöhen. Das Beratungsunternehmen McKinsey Global Institute schätzt, dass das Bruttoinlandsprodukt des Landes 2025 um 16 Prozent bis 60 Prozent höher sein kann, wenn Frauen im gleichen Maße an der Wirtschaft beteiligt werden wie Männer. Die Herausforderungen sind allerdings enorm. Es reicht nicht, öffentlichen Raum und Verkehrsmittel sicherer für Frauen zu machen – die gesamte von Männern dominierte Gesellschaft muss ihre Denkweise ändern.
Roli Mahajan ist Journalistin und lebt in Neu-Delhi. roli.mahajan@gmail.com