Öffentliche Haushalte

Steuergerechtigkeit für Lateinamerika

In den reichen Nationen Europas sind staatliche Einnahmen und Ausgaben integraler Teil impliziter Gesellschaftsverträge, die Schwächeren Chancen einräumen, aber Stärkere finanziell belasten.
In vielen Ländern Lateinamerikas geschieht dagegen das Gegenteil. Zum Glück wächst die Einsicht, dass Lasten und Nutzen fairer verteilt werden müssen.

[ Von Wolfram Klein ]

Lateinamerika ist gefolgt von den Ländern südlich der Sahara die sozial ungleichste Region der Welt. In den letzten 20 Jahren, in denen größtenteils demokratische Regierungen im Amt waren, hat die Ungleichheit sogar weiter zugenommen. Lediglich in Mexiko, Brasilien und Chile hat sie in den vergangenen zehn Jahren etwas abgenommen. Da Mittel- und Südamerika im Gegensatz zu Afrika eine Weltregion mit mittleren Einkommen bilden, müssten ihre Länder eigentlich aus eigener Kraft in der Lage sein, die extreme Armut zu bekämpfen.

Dies gelingt aber kaum: Der Anteil absolut Armer sank zwischen 1990 und 2002 von 11,3 nur auf 8,9 Prozent. Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens sind staatliche Ausgaben oft nicht ausreichend armutsorientiert. Zweitens setzen staatliche Institutionen – auch aufgrund von Korruption – offizielle Politik häufig nur ineffizient um. Drittens stehen in der Regel nicht genügend Mittel zur Verfügung, um Entwicklung zu finanzieren. Anders ausgedrückt: Die Steuereinnahmen reichen nicht. Die meisten Länder hängen deshalb weiterhin von zusätzlicher Finanzierung ab, sei es über externe und interne Verschuldung zu Marktkonditionen oder über die offizielle Entwicklungshilfe (ODA).

Systematische Mängel

Die Steuerquote Lateinamerikas lag im Schnitt der Jahre 1990 bis 2005 bei nur 15 Prozent der jeweiligen nationalen Wirtschaftsleistung. Das ist im internationalen Vergleich sehr gering. Die durchschnittliche Steuerquote der OECD-Länder liegt bei 36 Prozent. Auch China (17 Prozent), Indien (18 Prozent) und Südkorea (24 Prozent) liegen über dem lateinamerikanischen Mittel. Haiti markiert mit 8,9 Prozent den unteren Rand und Brasilien mit einer Steuerquote von 35,9 Prozent den oberen. Besonders niedrig sind die Steuerquoten in Mexiko, Kolumbien, Paraguay, Guatemala, Argentinien, Costa Rica, El Salvador und Chile. Die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) geht davon aus, dass die Steuerquote im Schnitt bei rund 20 Prozent liegen könnte, ohne dass die Region deswegen internationale Wettbewerbsfähigkeit einbüßen würde (Gómez-Sabaini, 2006).

Anders als in Industrieländern sind weder die Einnahmeseite noch die Ausgabenseite staatlicher Haushalte sozial ausbalanciert. Wohlhabende zahlen in Lateinamerika zu geringe Steuern, Arme profitieren dagegen zu wenig von den staatlichen Dienstleistungen. Ohnehin sehr ungleiche Vermögens- und Besitzverhältnisse werden in vielen Ländern Lateinamerikas dadurch weiter verschärft. Bislang werden lediglich Mehrwertsteuern in Lateinamerika nach modernen Standards erhoben. Diese Steuerart belastet jedoch den Konsum, trifft also diejenigen besonders hart, die einen großen Anteil ihres Einkommens für den täglichen Bedarf ausgeben müssen. Alle anderen Steuerarten bringen noch zu geringe Einnahmen (Perry, 2006: 97). Einkommenssteuern wären besonders wichtig, weil sie progressiv gestaffelt werden können, sodass Menschen mit höheren Einkommen auch höhere Steuerquoten zahlen. Laut CEPAL stieg die Mehrwertsteuer in Lateinamerika zwischen 1990 und 2005 von durchschnittlich elf auf 15 Prozent, während die Einkommenssteuer – so sie überhaupt erhoben wurde – stark sank.

Gefahr erkannt – nicht gebannt

All dies wird in jüngerer Zeit zunehmend diskutiert. Zwischen der EU und Lateinamerika ist „sozialer Zusammenhalt“ seit 2004 zentrales Dialogthema – und das berührt auch die öffentlichen Finanzen. Sie könnten auf dem nächsten EU-Lateinamerika-Gipfel 2008 in Lima eine noch bedeutendere Rolle spielen. In ihrem Flagship-Report über Lateinamerika hat die Weltbank 2006 anerkannt, dass es – anders als klassisch postuliert – nicht nur darum geht, Wirtschaftswachstum zu erzielen, welches dann irgendwie den Armen zugute kommt (de Ferranti et. al., 2006). In Lateinamerika ist eine fairere Verteilung von Einkommen und Besitz Voraussetzung für ein höheres und stabileres Wachstum, das auch den Armen zugute kommt. Besonders wichtig ist aber, dass viele gewählte Regierungen in Lateinamerika in den vergangenen Jahren größeren sozialen Ausgleich fordern.

Zweifelsohne erzeugt dies einen wachsenden Erwartungs- und Handlungsdruck. Dieser tut not – denn passiert ist noch nicht viel. Zwar hat Uruguay, ein sozial relativ ausgeglichenes Land, in diesem Jahr erstmals eine Einkommenssteuer eingeführt. In den meisten anderen Staaten ist die höhere Besteuerung von Vermögen und Besitz nach wie vor tabu. Wichtig wäre es vielerorts, auch (höhere) Abgaben auf unproduktiven Großgrundbesitz zu erheben.

Manche Länder versuchen mit effizienterer, weniger korruptionsanfälliger Steuereintreibung ihre Einnahmen zu erhöhen. Auch das ist finanzpolitisch „progressiv“, denn es sind meist die Reichen, die legale und illegale Steuerschlupflöcher nutzen können. Reformerfolge können Chile, El Salvador, Bolivien und Mexiko vorweisen. In Peru, Ecuador und Guatemala hingegen sind die bereits massiven Probleme weiter gewachsen.
Fast zynisch sind andere Varianten der Einnahmedebatte. So scheinen sich derzeit einige Regierungen vor allem dafür zu interessieren, wie die Heimatüberweisungen von Migranten für die Entwicklungsfinanzierung herangezogen werden könnten. Über die Gründung spezieller Genossenschaftsbanken oder Investitionsfonds zu diesem Zweck ließe sich sinnvoll diskutieren – würden solche kleinen Kapitaltransfers aber besteuert, träfe das abermals überwiegend die kleinen Leute.

Fraglos hoffen viele lateinamerikanische Regierungen derzeit darauf, dass wie in den vergangenen Jahren hohe – und vielleicht sogar noch steigende – Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt ihre Staatseinnahmen unterstützen. Venezuela finanziert Sozialausgaben komplett mit Öleinnahmen, in Bolivien soll Erdgas diese Funktion erfüllen. Da obendrein der Zugang zu Krediten angesichts der hohen Liquidität des internationalen Finanzsystems leichter und günstiger wurde, erscheint es vielen Regierungen wenig dringlich, mit Steuern höhere Staatseinnahmen zu erzielen. Viel deutet darauf hin, dass die tot geglaubten lateinamerikanischen Rentenökonomien wieder neu aufleben.

Dies geschieht aber immerhin in einem sozialeren Gewand, denn die Erkenntnis, dass staatliche Ausgaben „armutsorientierter“ werden müssen, ist glücklicherweise mittlerweile weit verbreitet. Auch dies war überfällig, denn typischerweise kommen die „Sozialausgaben“ in vielen Ländern Lateinamerikas weniger den Armen als den Mittelschichten zugute. Die oftmals subventionierten Sozialversicherungssysteme für Krankheit und Alter machen Leistungen meist von den individuellen Einzahlungen abhängig und grenzen Arme dadurch aus. Ähnliches geschieht mit den Subventionen und Infrastrukturleistungen für Strom, Wasser und Bildung. Diese Infrastrukturen entsprechen auf dem Land, wo die meisten armen Menschen leben, sehr selten dem Bedarf, und in den Städten konzentrieren sie sich zu oft auf reichere Stadtteile.
Hieran ändert sich langsam etwas: So genannte „net-cash transfer“-Programme, die beispielsweise den regelmäßigen Schulbesuch von Kindern aus ärmsten Familien durch Direktüberweisungen an die Eltern belohnen, tragen zu einer unmittelbaren Minderung der Armut bei – und fördern gleichzeitig die Grundbildung. Bekannte Beispiele sind „Bolsa Familia“ in Brasilien oder „Oportunidades“ in Mexiko. Solche Sozialassistenz-Programme sind aber insgesamt von ihren Volumina her noch relativ unbedeutend. Andere, auf Produktivitätssteigerung und Wachstum ausgerichtete Maßnahmen wie armutsorientierte Mikrokredite und Berufsausbildung werden gleichfalls immer noch zu wenig gefördert.

Reformansätze

Für sinnvolle Reformen gibt es zahlreiche Ansatzpunkte: Legale und – auf Korruption beruhende – illegale Schlupflöcher zu schließen würde laut CEPAL die Steuerquote in Lateinamerika um etwa drei Prozentpunkte steigern. Damit würde auch das große Misstrauen der Bürger in Ländern, in denen Steuerhinterziehung, Steuervermeidung und Kapitalflucht oftmals die Regel sind, gemindert, zumal wegen hoher Steuerausfälle immer wieder plötzliche Sonderabgaben erhoben werden müssen. Auf die bislang vielerorts üblichen regelmäßigen Steueramnestien sollte dagegen verzichtet werden. Sie setzen negative Signale für den Zusammenhalt bereits tief gespaltener Gesellschaften.

Voraussetzung für erfolgreiche Reformen sind transparente und glaubwürdige Institutionen und Verfahren. Die Finanzbehörden, die Justiz, aber auch die parlamentarischen und zivilgesellschaftlichen Kontrollinstanzen müssen gestärkt werden. Das müssen sie auch für die sinnvolle Einführung oder Verbesserung einer maßvollen progressiven Einkommenssteuer oder Maßnahmen zur Stärkung von Kapitaltransferkontrollen.

Auch die dezentralen, untergeordneten Gebietskörperschaften – vor allem Kommunen – brauchen höhere Einnahmen. In vielen Ländern Lateinamerikas haben sie wichtige und wachsende Zuständigkeiten. Ihre Einnahmen bleiben aber oft so gering, dass man nicht von kommunaler Selbstverwaltung sprechen kann. Hier stehen teils umfangreiche Reformen an; und deutsche Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit können derlei unterstützen.
Auch andere Schritte würden dazu taugen, die Steuereinnahmen zu erhöhen. Sie dürften freilich schwerer fallen. Dazu gehört etwa die Formalisierung der unzähligen Klein- und Kleinstunternehmen. Ihre Wettbewerbsfähigkeit beruht aber auf niedrigen Kosten, sie taugen also nur begrenzt als Steuerquelle. Für Schwellenländer wie Chile, Brasilien oder Mexiko mit bereits ansehnlicher Produktivität ist dies aber mittelfristig eine relevante Aufgabe. Auch die Einführung von Abgaben auf Finanztransfers kann sinnvoll sein, sollte jedoch maßvoll bleiben um die geringfügigen, aber oft überlebenswichtigen Rücküberweisungen von Migranten nicht zu schwächen und um ausländisches Kapital nicht abzuschrecken.

Obendrein ist es zweckmäßig, die Abgaben- und Tarifsysteme für staatliche Dienstleistungen deutlich progressiver zu gestalten. Es ist skandalös, dass Wasser und Strom vielfach hauptsächlich den Reicheren zugute kommen, dafür aber nicht einmal die laufenden Kosten für die Bereitstellung gedeckt werden. Die zum Teil hitzige politische Debatte über faire Preise, Privatisierung versus Verstaatlichung sowie das Grundrecht auf Wasser und Energie zeigt, wie wichtig dieses Thema ist. Es sollte möglich sein, zu vermitteln, dass sich pragmatisch etwas ändern lässt. Würden die Reichen kostendeckende Tarife zahlen, könnten die staatlichen Zuschüsse für diese Systeme dazu verwendet werden, mehr arme Menschen an die Versorgungsnetze anzuschließen. Würden wohlhabende Schichten noch etwas drauflegen, könnte dies sogar zur Quersubventionierung armer Verbraucherschichten dienen – eine ganz konkrete und praktische Form gesellschaftlicher Solidarität.

Nötig: Politischer Wille

In jedem Fall sollten die sozialen Wirkungen von Einnahmen und Ausgaben besser analysiert und abgestimmt werden. Das Know-how hierfür ist vielfach noch zu niedrig, bisweilen ist aber auch das politische Interesse daran gering.

Entscheidend für eine höhere Armutsorientierung bei Ausgaben und Einnahmen ist aber der politische Wille der amtierenden nationalen Regierungen. Steuer- und Gerechtigkeitsfragen sind innenpolitisch immer sensibel, ausländische Akteure haben hier kaum Einfluss. Auf deutscher und europäischer Ebene bieten wir den Ländern Lateinamerikas daher zunächst vor allem Dialogplattformen an, die dem Erfahrungsaustausch und der Ideensammlung dienen. Die Hoffnung ist, bei reformorientierten, pragmatischen Politikern, die in den vergangenen Jahren gewählt wurden, auf offene Ohren zu stoßen.

Unter günstigen Rahmenbedingungen ist eine direkte Beratung möglich. Die deutsche Entwicklungspolitik hat vielfältige Erfahrung und Expertise – etwa in Steuerrecht und -verwaltung, bei der Rechnungslegung auf zentralstaatlicher und kommunaler Ebene oder für die Stärkung der parlamentarischen, zivilgesellschaftlichen und justiziellen Kontrolle. Sie ist bereits länderübergreifend und bilateral aktiv. Strategische Partnerschaften mit der Inter-Amerikanischen Entwicklungsbank und CEPAL weisen ebenfalls in diese Richtung.

Eine zusätzliche Chance für einen konstruktiven Politikdialog bietet die Budgethilfe. In Lateinamerika wird dieses Instrument, mit dem mehrere Geber gemeinsam den nationalen Haushalt eines Empfängerlandes bezuschussen, insbesondere in ärmeren Ländern wie Honduras, Bolivien und Nikaragua zunehmend eingesetzt. Gebergremien achten verstärkt darauf, dass ihre Zuschüsse zum Haushalt nicht die nationalen Steuermittel verdrängen, sondern dass das Empfängerland im Gegenteil verstärkte Anstrengungen unternimmt, künftig steigende Eigenbeiträge zu erwirtschaften und für die Armutsbekämpfung einzusetzen. Erste Schritte hierfür sind bereits vereinbart worden.