Historische Vorbilder

„Den eigenen Weg finden“

Sozialpolitik verhindert nicht nur Armut, sondern macht Märkte dynamischer und staatliche Ordnungen stabiler. Sie ist ein Mittel, um Ungleichheit in einer Gesellschaft zu reduzieren. Der Ökonom Markus Loewe erläutert Geschichte und Grundkonzepte der Sozialpolitik im Interview mit Hans Dembowski.
Lesotho hat eine ­Mindestrente für alle Bürger über 70 Jahren eingeführt. Dirk Bleyer/Lineair Lesotho hat eine ­Mindestrente für alle Bürger über 70 Jahren eingeführt.

Ist staatliche soziale Sicherung das richtige Mittel, um wachsende Ungleichheit zu bekämpfen?
Um die Frage zu beantworten, muss erst mal klar sein, inwiefern Ungleichheit wächst. International nimmt die Ungleichheit seit einiger Zeit interessanterweise in einer Hinsicht ab: Die Durchschnittseinkommen verschiedener Staaten gleichen sich einander seit einigen Jahren an, während sie zuvor lange eher auseinandergedriftet sind. Das ist ein gutes Zeichen, denn es bedeutet, dass Entwicklungs- und Schwellenländer tendenziell aufholen. Aber innerhalb der Staaten nimmt die Ungleichheit zu.

Und das ist beunruhigend.
Pauschalisierend lässt sich sagen, dass die Wohlhabenderen reicher werden und arme Bevölkerungsgruppen abgehängt werden – und zwar in Industrienationen wie auch in Entwicklungsländern. Die Daten aus verschiedenen Volkswirtschaften zeigen aber, dass staatliche Umverteilung dazu beiträgt, diesen Trend zu bremsen.

Woran lässt sich das ablesen?
Wirtschaftswissenschaftler messen Ungleichheit mit dem Gini-Koeffizienten. Vor Steuern und Sozialleistungen liegen die Gini-Koeffizienten für die USA, Deutschland und Schweden auf einem ähnlichen Niveau. Das heißt: Die Marktprozesse haben ähnliche Ergebnisse. Wenn wir aber die Lage nach den staatlichen Eingriffen betrachten, zeigt der Gini-Koeffizient in den USA deutlich größere Ungleichheit an als in Deutschland und in Deutschland deutlich größere als in Schweden. Daraus folgt, dass die staatlichen Bemühungen, Armut zu reduzieren und den Lebensstandard einfacher Menschen zu sichern, erfolgreich sind.

Warum ist soziale Sicherheit wünschenswert?
Sie ist sozial, ökonomisch und politisch nützlich. Der soziale Effekt ist natürlich, dass Armut und Ungleichheit reduziert werden. Das wiederum hat einen oft unterschätzten ökonomischen Effekt. Denn wer sich sicher fühlt, ist eher bereit, etwas zu riskieren – und zum Beispiel in Produktionsmittel oder Bildung zu investieren. Das bedeutet kurzfristig weniger Einkommen und höhere Ausgaben, führt aber langfristig vielleicht zu höheren Einkommen. Wo es keine Sicherung gibt, sparen die Menschen für Notfälle. Sie verstecken irgendwo Bargeld, legen es aber nicht so an, dass es Erträge bringt, denn sie können keine Verluste riskieren. Wenn sie dagegen wissen, dass sie im Notfall eine Grundsicherung auffängt, werden sie risikobereiter. Sie sind dann eher bereit, ein Geschäft zu gründen oder Kinder länger als unbedingt nötig zur Schule zu schicken. Die Menschen werden mutiger und die Märkte entsprechend dynamischer.

Heißt dass, es ist falsch, darauf zu warten, dass eine Volkswirtschaft reich genug wird, um sich soziale Sicherung zu leisten, weil soziale Sicherung selbst dazu beiträgt, den Wohlstand zu erzeugen, der nötig ist, um sie zu finanzieren?
Da ist etwas dran. Historisch steht jedenfalls fest, dass Länder wie Deutschland viel ärmer waren als heute, als sie staatliche Sicherungssysteme einführten, und dass das zu ihrem Erfolg beigetragen hat. Dass Otto von Bismarck Ende des 19. Jahrhunderts damit begann, einen Sozialstaat zu schaffen, hatte indessen mit den politischen Effekten zu tun: Soziale Sicherung bedeutet mehr Legitimität und Stabilität für Staat und Gesellschaft. Die Loyalität der Menschen zu ihrem Staat wächst, wenn sie sehen, dass er etwas für sie tut. Bismarck wollte politische Stabilität. Er ließ die Sozialdemokraten verbieten und führte zugleich eine Renten- und Krankenversicherung ein, um die Probleme anzugehen, die der Arbeiterbewegung massenhaft Zulauf verschafften.

Die von Bismarck geschaffenen Sozialversicherungen beruhen bis heute darauf, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer jeweils einen bestimmten Anteil des Lohns in staatliche Kassen einzahlen, die mit dem Geld dann Renten, Krankheitskosten und mittlerweile auch Arbeitslosengeld finanzieren. Das geht im informellen Sektor aber nicht, weil er vom Staat nicht erfasst wird. Folgt daraus, dass Sozialpolitik erst möglich wird, wenn eine Volkswirtschaft weitgehend formal reguliert ist?
Nein, das ist ein Trugschluss, denn es ist auch möglich, Sozialleistungen aus dem allgemeinen Staatshaushalt, der auf Steuern beruht, zu finanzieren. Das geschieht zum Beispiel in Skandinavien. Auch das britische System beruht in erster Linie auf Steuern. Typischerweise dient Sozialpolitik, die so finanziert wird, vor allem der Armutsbekämpfung, wobei allen Einwohnern eines Landes ein Mindestlebensstandard einschließlich der Gesundheitsversorgung garantiert wird. Staatliche Sozialversicherungen, die mit individuellen Beiträgen finanziert werden, dienen dagegen eher dazu, den persönlich erreichten Lebensstandard zu sichern.

Was ist denn besser?
Das hängt davon ab, was erreicht werden soll. Steuerfinanzierte Systeme sind besser, wenn es um Armutsbekämpfung geht, weil sie alle Menschen erreichen und nicht nur die, die eingezahlt haben. Sie haben auch den Vorteil, dass sie nicht unmittelbar die Lohnkosten hochtreiben. Hohe Lohnkosten sind ein Anreiz, möglichst wenige Menschen zu beschäftigen und lieber in Maschinen zu investieren und mehr Energie zu verbrauchen. Es ist deshalb sinnvoll, Sozialleistungen auch mit Einkommenssteuern zu finanzieren, die auf Kapitalerträge erhoben werden, oder mit Umsatzsteuern, die alle Verbraucher zahlen. Zudem lässt sich mit bismarckschen Sozialversicherungen Armut im informellen Sektor nur schwer lindern – und diese ist in vielen Entwicklungsländern verbreitet.

Und was sind die Vorteile des bismarckschen Modells?
Es überzeugt politisch wichtige Bevölkerungsgruppen – städtische Mittelschichten, qualifizierte Arbeitnehmer und so weiter. Diese Menschen sind nicht unmittelbar von existenzieller Armut bedroht, aber sie können deutliche Wohlstandseinbußen erleben, wenn sie krank werden oder ihren Arbeitsplatz verlieren.

Ist das der Grund, weshalb in reichen Ländern bismarcksche Modelle so verbreitet sind?
Es ist ein Grund – der andere ist historisch. Deutschland war ein Vorreiter in der Sozialpolitik, weil Bismarck, wie eben schon erläutert, dem neuen Kaiserreich Legitimation verschaffen wollte. Als nach dem ersten Weltkrieg Elsass und Lothringen wieder zu Frankreich kamen, beschloss die französische Regierung, das Modell im ganzen Land einzuführen. Wenn sie den Elsässern und Lothringern die Sozialversicherungen weggenommen hätten, hätten diese sich nach Deutschland zurückgesehnt. Eine regionale Sonderregelung passte aber nicht zum zentralstaatlichen Denken, das für Frankreich typisch ist. Flächendeckende Sozialversicherungen waren aber offensichtlich denkbar. Und als Deutschland und Frankreich dasselbe System nutzten, wurde es zum Vorbild, das auch andere Länder kopierten – Spanien zum Beispiel.

Aber in Skandinavien war das anders? Dort wird die Sozialpolitik doch vor allem aus dem allgemeinen Haushalt finanziert.
Auch für Schweden war Deutschland Vorbild. Die Sozialdemokraten dort wollten die Arbeiterschaft schützen. Ein sehr großer Teil der Bevölkerung waren aber damals noch kleine selbstständige Landwirte; man könnte sagen, das Land hatte einen großen informellen Sektor. Die konservative Partei, die sich vor allem als Interessenvertretung dieser Bevölkerungsgruppe sah, forderte, dass ein Sozialsystem auch sie erfassen musste. In gewisser Weise war die Lage also ähnlich wie heute in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern. Das Ergebnis war, dass Schweden ein System einführte, das nicht nur auf lohnbezogenen Abgaben beruhte, sondern aus dem allgemeinen Staatshaushalt finanziert wurde, um auch selbstständige Erwerbstätige erfassen zu können.

Das ist also für Entwicklungs- und Schwellenländer das bessere Modell?
Grundsätzlich ja, aber in der Praxis lässt sich die Frage meistens nicht so einfach beantworten. Jedes Land muss seinen eigenen Weg finden, der seinen Gegebenheiten entspricht und auf dem aufbaut, was bereits da ist. Ehemalige französische Kolonien haben zum Beispiel meist Sozialversicherungen für Beamte, Armeeangehörige und formal Beschäftigte, die sie sozusagen von Frankreich geerbt haben. Das können sie nicht einfach streichen, denn das würde berechtigten Widerstand der betroffenen Personengruppen auslösen. Tunesien etwa hat heute rund ein Dutzend verschiedene Sozialversicherungssysteme für verschiedene Berufs- und Beschäftigungsgruppen. Das funktioniert auch recht gut, hat allerdings den Nachteil, dass es den Wechsel von einer Gruppe in die andere erschwert und damit die Wirtschaft weniger flexibel macht. Die große politische Herausforderung ist immer, auf dem Bestehenden aufbauend neue Probleme zu lösen.

Welche innovativen Konzepte aus Schwellen- und Entwicklungsländern sind nachahmenswert?
Es gibt eine ganze Reihe. Am bekanntesten sind vermutlich die konditionierten Geldtransfers, die Brasilien, Mexiko und andere lateinamerikanische Länder eingeführt haben. Es ist eine Art Sozialhilfe, die Familien ein Mindestauskommen sichert, aber nur bezahlt wird, wenn sie ihre Kinder regelmäßig zur Schule und zum Arzt schicken. Manche Kritiker finden das entmündigend und meinen, das Geld sollte bedingungslos bezahlt werden. Klar ist aber, dass die Bedingungen den Transfers Legitimation bei wohlhabenderen Leuten geben, die finden, dass den Armen nichts geschenkt werden darf.

Funktionieren denn auch bedingungslose Transfers?
Ja, das gibt es mittlerweile in verschiedenen Ländern im südlichen Afrika, zum Beispiel in Lesotho. Dieses Land hat eine staatliche Grundrente für alle eingeführt, die 70 Jahre oder älter sind. Das ist sehr erfolgreich. Es bedeutet, dass die Senioren nicht einfach nur eine Last für ihre Familien sind. Oft geben die Alten ihren Kindern und Enkeln auch etwas ab. Gemessen an EU-Standards ist das alles recht bescheiden, aber im Alltag reduziert es wirkungsvoll Armut.

Was ist von Beschäftigungsgarantien wie der Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee (MGNREGA) in Indien zu halten? Dieses Gesetz gibt jeder Familie im ländlichen Raum den Anspruch auf 100 Arbeitstage zum gesetzlichen Mindestlohn.
Das ist wieder ein Versuch, eine Sozialhilfe zu schaffen, ohne Geld zu verschenken. Politisch ist das sinnvoll, hat aber den Nachteil, dass zum Teil einige besonders bedürftige Menschen nicht teilhaben können. Alleinerziehende Mütter können ja nicht einfach arbeiten gehen. In einigen Gebieten wurden deshalb extra Kinderhorte für diese Familien geschaffen, aber eben nicht überall. Generell zeigt die empirische Erfahrung, dass das Gesetz nicht in allen indischen Bundesstaaten gleich kompetent implementiert wird. In einigen Bundesstaaten läuft es aber sehr gut. Eine Stärke von MGNREGA ist auch, dass die indische Verfassung ein Recht auf Arbeit enthält. Das bedeutet, dass das Gesetz nicht so einfach wieder abgeschafft werden kann, denn es erfüllt ja diesen zuvor unerfüllten Verfassungsauftrag.

Gibt es auch innovative Konzepte, um armen Menschen Krankenversicherungen zu verschaffen?
Auch diesbezüglich geht Indien seit einiger Zeit einen interessanten Weg. Der Nationalstaat will eine Krankenversicherung einrichten, die arme Menschen mit allgemeinen Steuergeldern versorgt, während Menschen mit mittleren Einkommen bezuschusst werden und die wohlhabenden Schichten ihren Schutz selbst finanzieren. Beim Aufbau dieses Systems kommen die Armen zuerst dran, und dann soll es auf die anderen Bevölkerungsgruppen ausgeweitet werden. So soll verhindert werden, dass erst mal die Bessergestellten versorgt werden und die Armen dann am Ende vergessen werden wie in vielen anderen Ländern, wo die Ausweitung der Deckung der Sozialversicherung seit langem stagniert.

Grundsätzlich bieten in Indien staatliche Krankenhäuser ihre Dienstleistungen gratis an, aber in der Praxis funktioniert das nicht. Wer behandelt werden will, muss Schmiergeld zahlen oder gute Beziehungen haben.
Ja, das ist in vielen Entwicklungsländern ähnlich. Als die Staaten unabhängig wurden, versprachen die Regierungen ein kostenfreies Gesundheitswesen. Dann fehlte aber das Geld, um es zu finanzieren. Im ländlichen Raum gab es kaum Krankenhäuser oder auch nur Arztpraxen, und die Infrastruktur wurde mangels Finanzen dann auch nie geschaffen. Das Ergebnis war ein Schwarzmarkt in städtischen Krankenhäusern, auf dem die knappen Dienstleis­tungen verkauft wurden. Mittlerweile ist aber nicht nur in Indien die Bereitschaft gewachsen, einzugestehen, dass das Gratis-Gesundheitswesen nicht funktioniert und dass Alternativen nötig sind. Private Anbieter spielen im Gesundheitswesen eine wachsende Rolle.

Tun Gebernationen genug, um den Aufbau sozialer Sicherungssysteme in Schwellen- und Entwicklungsländern zu unterstützen?
Die Frage klingt einfach, ist aber kompliziert. In Deutschland gibt es zum Beispiel den Konsens, dass die Entwicklungspolitik Investitionen in Gesundheits- und Bildungswesen unterstützen kann, die laufenden Kosten aber von den Entwicklungsländern getragen werden müssen. Das ist auch stimmig, denn warum sollten deutsche Steuerzahler die Krankenversorgung beispielsweise in Nigeria finanzieren? Viele Nigerianer sind durchaus wohlhabend genug, um Steuern und Sozialabgaben zu finanzieren, der Staat treibt das Geld aber nicht konsequent ein. Ob die Faustregel „Investitionen ja, laufende Kosten nein“ aber immer angebracht ist, ist fraglich. Wenn es nach einem Bürgerkrieg darum geht, einen Staat aufzubauen, könnte es klug sein, in den ersten Jahren eine gesetzliche Krankenkasse mit Entwicklungshilfe zu finanzieren. Das würde dem neuen Staat auf Anhieb Legitimation verschaffen. Wenn er dann im Lauf der Zeit stabil und leistungsfähig wird, könnte dann die internationale Finanzierung der laufenden Kosten eingestellt werden.

 

Markus Loewe arbeitet als Senior Researcher am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik.
markus.loewe@die-gdi.de

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