Sinti und Roma
Sinti und Roma fordern Gleichstellung und Teilhabe
Zu den Roma zählen etwa 12 Millionen Menschen, und sie sind in ganz Europa extrem diskriminiert. „Roma“ (vom Singular: Rom = Mensch) ist die Selbstbezeichnung einer Volksgruppe, die vor über 1000 Jahren aus dem Nordwesten Indiens nach Westen bis nach Europa abwanderte. Die Sinti sind eine Teilgruppe der Roma und seit Jahrhunderten im deutschsprachigen mitteleuropäischen Raum beheimatet. Die Bezeichnung Sinti für die mitteleuropäischen Gruppen leitet sich möglicherweise von der Region Sindh (im heutigen Indien und Pakistan) ab.
Über die Ursprünge der Roma ist nicht viel bekannt. Ihre Wanderung aus dem heutigen Indien und Pakistan nach Europa dauerte etwa 500 Jahre, und sie kamen auf unterschiedlichen Migrationswegen. Ihre Sprache, Romanes, ist mit dem altindischen Sanskrit verwandt, beinhaltet jedoch Elemente von anderen Sprachen, je nach Heimatregion – so gibt es in Deutschland ein „deutsches Romanes“. Dies zeigt, dass die Roma aus sehr heterogenen Gruppen bestehen. Auch ihre Religion richtete sich eher nach der Mehrheitsgesellschaft, je nachdem, wo sie leben; in Mitteleuropa also sind sie in der Regel christlich.
In der offiziellen Definition der EU umfasst Roma „verschiedene Gruppen wie Roma, Sinti, Kalé, Romanichals, Bojasch/Rudari, Aschkali, Ägypter, Jenische, Dom, Lom, Rom und Abdal sowie Fahrende (gens du voyage, Gypsies, Camminanti usw.)“. Jedes europäische Land hat andere Namen für Menschen dieser Minderheit – teils auch abwertende. Eines ist allen gleich: Sie waren in der Regel Ausgestoßene und durften sich nicht fest ansiedeln. Dies machte sie zu fahrendem Volk, was aber nicht unbedingt eine freiwillige Entscheidung war, sondern eine Konsequenz aus ihrer Rechtlosigkeit. In Südosteuropa wurden sie über Jahrhunderte als Leibeigene unterjocht oder sogar versklavt.
Anhaltende Diskriminierung
Die ohnehin schon vorhandene Diskriminierung fand ihren Höhepunkt in Deutschland, in der Verfolgung während des Nazi-Regimes: ab 1934 wurden viele Sinti und Roma zwangssterilisiert und ab 1942 systematisch ermordet. Schätzungsweise fielen etwa eine halbe Million Sinti und Roma in ganz Europa der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zum Opfer. „Porajmos“ nennen sie diesen Genozid; das heißt auf Romanes „Verschlingen“ oder „Zerstörung“.
Bezeichnend für die anhaltende Diskriminierung auch nach der Nazizeit ist der lange Kampf, den die Überlebenden führen mussten, um überhaupt als Opfer des Faschismus angesehen zu werden. Erst 1982 wurde in Deutschland der Völkermord an den Sinti und Roma anerkannt, und seit 2015 gibt es einen europäischen Gedenktag an die Opfer des Porajmos.
In der Nachkriegszeit arbeitete die deutsche Polizei häufig mit denselben Listen wie die Nazis, auf denen angeblich „kriminelle“ Roma und Sinti verzeichnet waren. Es waren oft dieselben Beamten, die während der Nazizeit die Transporte in die Konzentrationslager organisiert hatten. Die Täter wurden „für ihre Taten nicht zu Verantwortung gezogen“, sagt der Journalist Thies Marsen.
Es gibt einen rassistischen Hintergrund für diese Kontinuität: Antiziganismus. Dies ist die „Abwehrhaltung der Mehrheitsbevölkerungen gegen Roma und Sinti“, so die Bundeszentrale für politische Bildung. Antiziganismus bezeichnet die Ausgrenzungs- und Verfolgungspolitik in Europa gegen Sinti und Roma seit dem 15. Jahrhundert. Im Antiziganismus werden Mitglieder der Gruppen der Roma und Sinti pauschalisierend als „fremd“ oder „kriminell“ bezeichnet. Mit anderen Worten: Millionen Menschen einer ethnischen Minderheit wird ein solches Verhalten als unveränderliche Wesensart unterstellt. Tatsächlich sind die meisten Roma schon seit Generationen sesshaft; sie werden jedoch nach wie vor als „nomadisch“ betrachtet.
Antiziganismus ist eine bis heute in europäischen Gesellschaften durchaus akzeptierte Grundhaltung vieler Menschen gegenüber Sinti und Roma. Diese Grundhaltung führt zu massiven Diskriminierungen dieser Minderheit. „Der gegenwärtige Antiziganismus“, so der Berliner Historiker Wolfgang Wippermann, „ist mehr ein Produkt der Vergangenheit als der Gegenwart.“ Die Auswirkungen sind jedoch nach wie vor deutlich zu spüren.
2014 zeigte eine Umfrage im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, dass Sinti und Roma in Deutschland einen extrem schlechten Ruf haben. „Sie sind am wenigsten als Nachbarn erwünscht, und ihr Lebensstil wird besonders häufig als abweichend eingeschätzt“, heißt es darin. Osteuropäer, Muslime, Schwarze, Italiener, Juden und Asylbewerber schnitten besser ab.
Zwei Jahre später belegte eine Studie der Böll-Stiftung, dass fast sechs von zehn Deutschen ein Problem damit hätten, wenn Sinti und Roma in ihrer Nähe wohnen würden. Rund die Hälfte fand, Sinti und Roma sollten aus den Innenstädten verbannt werden.
Kampf um Chancengerechtigkeit
Seit 1995 sind Sinti und Roma in Deutschland als „nationale Minderheit“ anerkannt, was den Staat verpflichtet, ihnen zu ermöglichen, „ihre Traditionen und ihr kulturelles Erbe zu bewahren“. Ihr gesellschaftlicher Status ist jedoch sehr niedrig. Das zeigt sich zum Beispiel in der Bildung, wie eine aktuelle Studie der Arbeitsgemeinschaft RomnoKher von 2021 belegt:
So liegt der Anteil der über 50-Jährigen ohne Schulabschluss bei über 50 Prozent, bei den 30- bis 50-Jährigen sind es knapp ein Drittel, bei den unter 30-Jährigen nur noch 15 Prozent. Zum Vergleich: In der Gesamtbevölkerung sind es unter 5 Prozent. Knapp 80 Prozent der über 50-Jährigen und etwa 40 Prozent der 18- bis 50-Jährigen hat keinen beruflichen Abschluss. Als Ergebnis der Studie fordern Sinti und Roma-Verbände, gegen Mobbing und Rassismus in der Schule vorzugehen.
In vielen europäischen Ländern ist die Lage der Roma katastrophal. In der Tschechischen Republik und der Slowakei werden Roma-Kinder oft routinemäßig in Sonderschulen gesteckt, als seien sie lernbehindert, was zu einer faktischen Segregation im Bildungswesen führt. In Bulgarien und Rumänien machen Roma jeweils ein Zehntel der Bevölkerung aus; jedoch haben in Rumänien nur die Hälfte von ihnen Arbeit. In Bulgarien sind nur 46 Prozent der Volksgruppe krankenversichert.
In der gesamten EU sind Roma häufig Opfer von Zwangsräumungen, behördlichen Schikanen und gewalttätigen Angriffen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) dokumentiert in einem Bericht von 2014 Hassverbrechen verschiedenster Art: Zum Beispiel schreitet die Polizei bei gewalttätigen Angriffen auf Roma oftmals nicht ein, so etwa in Griechenland und Frankreich. Gegen die Täter werde „häufig nicht ernsthaft ermittelt“ und mutmaßliche „rassistische Motive würden ignoriert“, so AI.
In Ungarn gehen rechtsextreme „Bürgerwehren“ gewalttätig gegen Roma vor, weitgehend unbehelligt von der Polizei. Unter dem Deckmantel der „individuellen Förderung“ werden Roma-Kinder oft in separate Schulklassen gesteckt, was zu weiterer Segregation führt.
Die grassierende Covid-Pandemie hatte 2020 für hunderttausende Roma in ganz Europa gravierende Folgen: Wegen der Ausgangsbeschränkungen drohten vielerorts Hungersnöte. Rassistische Ressentiments führten zu Übergriffen und willkürlichen Unterdrückungsmaßnahmen. Hinzu kommen die nach wie vor prekären Lebensbedingungen der Roma in vielen Ländern: Sie haben oft keinen Zugang zu sauberem Wasser und zu medizinischer Versorgung. Dies ist eine humanitäre Katastrophe mitten in Europa und dennoch fast unbemerkt von internationalen Medien.
In allen europäischen Ländern gibt es jedoch seit langem Roma-Selbstorganisationen, die gegen Antiziganismus und für mehr Teilhabe und Chancengleichheit kämpfen. Während der Pandemie wurde beispielsweise die Kampagne #Act4RomaLives initiiert.
Inzwischen wird in Europa generell Rassismus und Diskriminierung mehr thematisiert; das ermutigt viele, ihre Herkunft als Roma nicht mehr zu verleugnen. Inzwischen weiß man von einigen Prominenten, dass auch sie dazu gehören, so etwa die deutsche Schlagersängerin Marianne Rosenberg, der US-amerikanische Schauspieler Yul Brynner oder der britische Musiker Ron Wood, Gitarrist der Rolling Stones. Dies sind einige wenige Erfolgsgeschichten, doch Teilhabe sollte für alle eine Selbstverständlichkeit sein.
Link
RomnoKher, 2021: Ungleiche Teilhabe. Zur Lage der Sinti und Roma in Deutschland.
https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/2021_RomnoKher_Ungleiche_Teilhabe.pdf
Sheila Mysorekar ist freie Journalistin und Projektmanagerin bei der Deutschen Welle Akademie.
sheila.mysorekar@dw.com