Gleichberechtigung
Ungleiche Sozialisierung
In jeder Kultur gibt es spezifische Mechanismen und Strukturen im Sozialisationsprozess, der dazu führt, dass Männer und Frauen eine bestimmte Rolle innerhalb ihrer sozialen Gruppe übernehmen. Mexiko ist ein multikulturelles Land. Es existieren aber landesweite Merkmale der Rolle der Frauen. Spezifische Gemeinschaften haben aber häufig nochmals ein eigene Vorstellung davon, welche Rolle sie ihren weiblichen Mitgliedern zuschreiben.
Überlieferte Verhaltensmuster und Traditionen haben einen starken Einfluss. Zu den sogenannten weiblichen Eigenschaften zählen Sensibilität, die Fähigkeit, zu vergeben, Verletzlichkeit, Demut, Gehorsam und Schweigen.
Sowohl auf dem Land wie auch in städtischen Gebieten bestehen Beziehungsmodelle fort, die auf Geschlechterstereotypen basieren: So etwa müssen viele Frauen ihre Männer um Erlaubnis fragen, um arbeiten oder studieren zu dürfen. In der Regel kontrollieren Männer das Geld und den Besitz der Familie. Die meisten Eltern vererben ihr Eigentum ausschließlich an ihre Söhne. Auch wird die Bildung der Söhne priorisiert. Solche Verhaltensweisen schränken die Unabhängigkeit und den Einfluss der Frauen ein. Ungeschriebene patriarchale Regeln werden so verinnerlicht, dass auch Frauen selbst häufig solche Praktiken unterstützen.
Frauen sollen jederzeit hübsch und begehrenswert aussehen, um das sexuelle Interesse ihres Partners wach zu halten. Und obwohl in zunehmendem Maße anerkannt wird, dass beide Partner für den Erfolg einer Ehe, aber auch der Kindererziehung und -betreuung verantwortlich sind, trägt in der Praxis hauptsächlich die Frau diese Lasten. Das gilt auch für die Pflege älterer oder kranker Verwandter und die Hausarbeit.
Wenn die Frauen-Fußballmannschaft ein Spiel gewinnt, folgen in den sozialen Medien mehr sexistische Kommentare als Glückwünsche. Negative Äußerungen und Beleidigungen gegenüber der oscarnominierten, indigenen mexikanischen Schauspielerin Yalitza Aparicio offenbarten ebenfalls das sexistische und rassistische Gedankengut, das in den Köpfen vieler Mexikaner verwurzelt ist. Es hieß zum Beispiel, sie könne nicht schauspielern und sähe nicht gut aus.
In sozialen Netzwerken zeigt sich mehr denn je, wie wichtig es ist, Frauen zu schützen, zu fördern und zu ermutigen. Auch Solidarität unter Frauen ist nötig. Leider beteiligen sich nämlich viele Frauen daran, Geschlechtsgenossinnen zu kritisieren, ohne sich selbst als potenziell Betroffene zu sehen. Wenn es um sexuelle Übergriffe geht, hagelt es in sozialen Netzwerken negative Kommentare über das Opfer – auch von Frauen.
Doch die #MeToo-Bewegung hat auch in Mexiko Einzug gehalten. Sie enthüllt, wie normal die Belästigung von Frauen ist – ob in der Familie, bei der Arbeit, im Bildungswesen und anderen Institutionen. Es wird davon ausgegangen, dass in Mexiko zwischen 2010 und 2015 3 Millionen sexuell motivierte Übergriffe stattfanden, von sexueller Belästigung bis zu Vergewaltigung. In der überwältigenden Mehrzahl der Fälle kam es laut staatlicher Kommission zur Opferbetreuung (Comisión Ejecutiva de Atención a Víctimas – CEAV) nicht zur Anzeige. Morde an Frauen sind sehr häufig (siehe Kasten).
Väter brechen ihr Studium nicht ab
Der Schlüssel, um diese Machtverhältnisse zu ändern, ist Bildung. Obwohl das Gesetz den gleichberechtigten Zugang der Geschlechter zu Hochschulen garantiert, werden junge Studentinnen der Ingenieurwissenschaften immer wieder von Dozenten gefragt, warum sie denn einen Männerstudiengang gewählt haben. In anderen Studiengängen wird Frauen dagegen oft unterstellt, sie wollten nur die Zeit bis zur Hochzeit überbrücken. Im Fall von Schwangerschaft brechen Mädchen und junge Frauen ihre Schul- und Hochschulbildung ab – nicht die Väter. Angehörige setzen derweil junge Frauen unter Druck, zu heiraten und Kinder zu bekommen.
In der katholisch geprägten Gesellschaft Mexikos haben Jungfräulichkeit und Mutterschaft hohen Symbolwert. Eine Folge ist die zunehmende Kriminalisierung der Abtreibung zu sehen. Bislang ist sie in fast allen mexikanischen Staaten unter bestimmten Voraussetzungen legal:
- nach einer Vergewaltigung,
- wenn Gefahr für die Gesundheit der Mutter besteht und
- bei Nachweis eines körperlichen oder geistigen Schadens des Kindes.
Manche konservative Staaten verschärfen jedoch die Gesetze und verbieten Abtreibung wie etwa der Bundesstaat Nuevo León im Nordosten. Dort wurde im März dieses Jahres die Verfassung mit dem Ziel „Schutz des Lebens vom Empfängnis an“ dahin gehend geändert, dass auch bei den bisher üblichen Ausnahmen – also etwa bei Vergewaltigung – ein Schwangerschaftsabbruch illegal ist und mit Gefängnis bestraft wird.
Nur in Mexiko-Stadt ist es erlaubt, eine Schwangerschaft während der ersten zwölf Wochen zu beenden. Trotzdem versuchen Abtreibungsgegner, Frauen bei ihrer Entscheidung zu beeinflussen. Hinzu kommt, dass viele Frauen, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, sozial geächtet werden.
Ein weiteres ernstes Problem betrifft die Kinderheirat. Der internationale zivilgesellschaftliche Dachverband Girls not Brides schätzt, dass in Mexiko 26 Prozent der Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag heiraten. Um die Rechte von Kindern und Jugendlichen zu wahren, hat der Senat voriges Jahr diese zivilrechtliche Praxis verboten.
In der Politik gab es beschämende Ereignisse. Um die Geschlechterquote zu erfüllen, stellen Parteien bei Kommunalwahlen vermehrt Frauen auf. Nach der gewonnenen Wahl setzten Parteispitzen dann Frauen unter Druck, abzutreten, damit ein männlicher Stellvertreter ihren Platz einnehmen konnte. Dieses Phänomen ist in Mexiko unter dem Namen „Juanitas“ bekannt. Andererseits hat in der laufenden Legislaturperiode die nationale Abgeordnetenkammer 241 weiblich und 259 männliche Mitglieder. Im Senat sitzen 63 Frauen und 65 Männern.
Nach Angaben des nationalen Wahlinstituts waren beide Parlamentskammern noch nie so nah an der Geschlechterparität. Andererseits sind nur zwei von 31 Gouverneuren weiblich, und Frauen stehen in nur 545 von 2 400 Kommunen an der Spitze.
Die Veränderung von Verhaltensmustern, die in Mexiko zu geschlechtsspezifischen Ungleichheiten führen, ist eine langfristige Aufgabe. Sie erfordert eine ständige Schulungs- und Sensibilisierungsarbeit, aber auch Vorgaben und Gesetze, die gewährleisten, dass jede Person, ob Mann oder Frau, uneingeschränkt alle ihre Rechte geltend machen kann. Frauen in Führungspositionen sind auch wichtig – zum Beispiel als Vorbilder.
Virginia Mercado ist Wissenschaftlerin an der Universidad Autónoma del Estado de México (UNAM) und Lehrkraft für Friedens- und Entwicklungsstudien.
virmercado@yahoo.com.mx