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Venezuela

Vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts zur Diktatur

Venezuela ist von einer tiefen Regierungskrise gezeichnet, die mit Verstößen gegen die Verfassung und mit schweren Menschenrechtsverletzungen einhergeht. Das Land steht nun am Scheideweg: Richtung offener Diktatur oder Richtung Wiederherstellung der Demokratie.
Demonstration gegen Venezuelas Regierung in der Hauptstadt Caracas. Becerra/picture-alliance/AA Demonstration gegen Venezuelas Regierung in der Hauptstadt Caracas.

Der wirtschaftliche, soziale und politische Niedergang Venezuelas hat in den letzten Monaten der Präsidentschaft von Hugo Chávez im Jahr 2012 begonnen und sich unter dessen Nachfolger Nicolás Maduro verstärkt. Lebensmittel und Medikamente sind knapp; es gibt gravierende Engpässe im Gesundheitswesen und in der Versorgung mit Wasser, Strom, Gas und Benzin. Die Sicherheitslage verschlechtert sich zusehends. Zudem wird für 2017 eine Inflationsrate von bis über 1 000 Prozent erwartet und eine Rezession von 4,5 Prozent. Die soziale Ungleichheit wird ebenfalls weiter zunehmen.

Die Unzufriedenheit der Menschen, die sich seit 2014 in öffentlichen Protesten zeigte, hat sich seit April 2017 verschärft. Es gibt ständig Demonstrationen im ganzen Land. Auslöser waren vor allem zwei Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs, die dem von der Opposition dominierten Parlament seine Kompetenzen entzogen haben.

Die Opposition warf der Regierung einen „Putsch von oben“ vor. Überraschenderweise urteilte die als „chavistisch“ geltende Generalstaatsanwältin, dass die Entscheidungen die Verfassung verletzten. Das Oberste Gericht besserte teilweise nach, doch der Vorwurf des Staatsstreichs steht nach wie vor im Raum.

Am ersten Mai eskalierte der Konflikt weiter, nachdem Maduro angekündigt hatte, eine neue verfassunggebende Versammlung einzuberufen, um die Verfassung von 1999 zu ändern – die wichtigste Hinterlassenschaft seines verstorbenen Vorgängers Chávez. Im Gegensatz zu 1999 und im Widerspruch zur Verfassung soll es diesmal keine Volksabstimmung über die verfassunggebende Versammlung geben.

Außerdem kündigte Maduro sogenannte Sektorwahlen für dieses Gremium – zusätzlich zu geografischen Wahlkreisen – an, zum Beispiel unter Studenten, Unternehmern oder Indigenen. Für solche Wahlen gibt es keine Rechtsgrundlage. Experten zufolge versucht das Maduro-Lager auf diese Weise, eine Überrepräsentation zu erreichen. Es könnte so die Mehrheit mit nur 20 Prozent der Gesamtstimmen gewinnen. Umfragen zufolge lehnen 80 Prozent der Menschen die Initiative ab.

Die Generalstaatsanwältin und weitere hochrangige regierungsnahe Beamte lehnen die von Maduro einberufene verfassunggebende Versammlung ab. Sie spaltet den „Chavismo“. Laut dem Oppositionsbündnis MUD stellt sie eine Fortsetzung des Staatsstreichs dar und ist für die Eskalation der – ursprünglich friedlichen – Proteste verantwortlich.

Die Regierung reagiert mit zunehmender Repression durch die Sicherheitskräfte. Die Folge sind bisher mehr als 70 Tote, 10 000 Verletzte und mehr als 3 000 Festgenommene, von denen 1 400 weiterhin in Haft sind. Mehr als 370 Zivilisten mussten sich vor Militärgerichten verantworten, was gegen die Verfassung ist.

Die Situation in Venezuela stellt sich nicht nur für die Bürger des Landes, sondern auch für die internationale Gemeinschaft als höchst unsicher, chaotisch und besorgniserregend dar. Vier politische Faktoren sind dafür grundlegend:

  1. Die institutionelle Krise
  2. Der Verlust des Wahlrechts
  3. Der zunehmende Militarismus der Regierung und die Militarisierung der Gesellschaft
  4. Die politischen Gefangengen

Der wichtigste Indikator ist der Verlust der Legitimität durch Wahlen. Laut Verfassung sollten im Dezember 2016 Gouverneurswahlen stattfinden, diese wurden jedoch auf unbestimmte Zeit verschoben. Das Gleiche gilt für die Volksabstimmung über die Amtsenthebung des Präsidenten. Zudem untergraben die neuen Regeln zur Wahl der Mitglieder der vorgeschlagenen verfassunggebenden Versammlung die Verfassungsnorm universaler, freier und geheimer Wahlen. Das Volk wird seines Rechts zu wählen beraubt.

Es gibt nun zwei Möglichkeiten, wohin sich das Land bewegt: in Richtung einer offenen Diktatur oder in Richtung Wiederherstellung der Demokratie. Im Moment liegt eine Pattsituation vor. Um weitere Gewalt zu verhindern, muss ein Dialogprozess in Gang gesetzt werden. Die internationale Gemeinschaft kann eine wichtige Rolle dabei spielen, die Bedingungen herzustellen, die einen solchen Prozess möglich machen.


Francine Jácome ist Geschäftsführerin und Forscherin am Venezuelan Institute for Social and Political Studies (INVESP).
fjacome@invesp.org