Identitätspolitik

Sprachenpolitik in Indien

Die indischen Bundesstaaten sind im Wesentlichen nach den Sprachgrenzen aufgeteilt. Das deutet darauf hin, wie wichtig die Sprache für die politische Identität ist.
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Entsprechend ist Bengalisch die Sprache des Bundesstaats Westbengalen sowie des Nachbarlandes Bangladesch. Rabindranath Tagore, der Literaturnobelpreisträger von 1913, hat in dieser Sprache geschrieben und mit der Gründung seiner Universität Vishwa-Bharati in Santiniketan vor 100 Jahren ganz bewusst unter britischer Kolonialherrschaft das regionale Kulturerbe gepflegt. Er hat es auch um bis heute beliebte Lieder erweitert.

Anhaltender politischer Streit herrscht heute in Indien jedoch darüber, ab welchem Schuljahr und in welcher Reihenfolge Kinder nach ihrer Regionalsprache in der Schule auch Hindi und Englisch lernen sollen. Die Zentralregierung versucht seit Jahrzehnten, Hindi als Nationalsprache durchzusetzen, was sich seit dem Amtsantritt von Premierminister Narendra Modi von der hindu-chauvinistischen Partei BJP noch verschärft hat.

English medium schools

In den Großstädten gibt es trotzdem einen starken Trend zu privaten englisch-sprachigen Schulen („English medium schools“). Die städtische Mittelschicht ist in wirtschaftlichem Sinne erfolgsorientiert. Sie will, dass ihre Kinder Englisch lernen. Wer diese Sprache nicht gut in Wort und Schrift beherrscht, erreicht weder in der Wirtschaft noch in Behörden oder der Justiz Führungspositionen. Die große Bedeutung der Sprache der ehemaligen Kolonialmacht führt zu einer gewissen Entfremdung (siehe Haupttext).

Hindi ist aber für viele keine attraktive Alternative, denn als Muttersprache dient es nur in Nordindien. Da Englisch für alle gleichermaßen fremd ist, schätzen Menschen aus anderen Regionen diese Sprache als vergleichsweise neutralen Boden, auf dem sie sich nicht grundsätzlich schwerer tun als ihre Landsleute aus dem Norden. Besonders stark gilt das für Südindien, wo dravidische Sprachen vorherrschen, die mit den indoeuropäischen wie Hindi, Bengalisch oder Gujarati gar nicht verwandt sind.


Martin Kämpchen lebt als Schriftsteller und Literaturübersetzer in Shantikniketan in Westbengalen.
martin.kaempchen2013@gmail.com