Soziale Sicherung
Zu wenig erforschtes Feld
Das einzige Buch, das dem halbwegs nahe kommt, ist nach wie vor das „Lehrbuch der Sozialpolitik“ von Heinz Lampert und Jörg Althammer, das seit 2014 in der 9. Auflage vorliegt. Schon die 1. Auflage von 1985 – ursprünglich von Heinz Lampert allein geschrieben – definiert die Sozialpolitik als ein zentrales Element der Wirtschafts- und Sozialordnung westlicher Industrieländer. Schnell hat sich das Buch als Standardwerk etabliert. Allerdings wurde in allen Neuauflagen weder die Struktur des Buches noch sein konzeptioneller Zugang wesentlich angepasst.
Für eine Betrachtung der Sozialpolitik in Deutschland ist dies noch hinnehmbar. In der internationalen Debatte hat sich hingegen ein Paradigmenwechsel vollzogen, den das Buch leider nicht widerspiegelt. Zum Beispiel beschäftigt sich die Wissenschaft nicht mehr nur mit Absicherung gegen Risiken wie Krankheit, Alter oder Arbeitslosigkeit; sondern sie hat erkannt, dass diese für Menschen im informellen Sektor oder in ländlichen Regionen – also das Gros der Bevölkerung in Entwicklungsländern – zum Teil weniger bedrohlich sind als etwa Dürren, Flutkatastrophen, Preisschocks oder Erdbeben. Diese Menschen brauchen daher unter Umständen ganz andere Systeme der sozialen Sicherung als das Gros der Menschen in Industrieländern. Ebenso stellen Lampert und Althammer nur europäische Modelle der sozialen Sicherung dar und lassen erfolgreiche, innovative Ansätze von Brasilien, Lesotho, Namibia oder Indien völlig unberücksichtigt.
Konventionelle und neue Konzepte
Lange war auch die internationale Debatte stark von der europäischen Perspektive geprägt. Dies lag auch daran, dass das Thema vor allem von der International Labour Organization (ILO) besetzt wurde, die sich vorrangig für den formellen Sektor und für staatliche Sozialpolitik interessiert. Daher war es hilfreich, dass die Weltbank das Thema 2000 mit einem Diskussionspapier aufgriff. Dieses fasste soziale Sicherung viel umfassender als die ILO als Unterstützung der privaten Haushalte beim Management von all ihren Risiken – Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit, aber auch Hagel, Vulkanausbruch und Bürgerkrieg.
Dass Systeme der sozialen Sicherung gerade in Entwicklungsländern zunächst einmal eine Grundsicherung schaffen, also für die Ärmsten ein Existenzminimum sicherstellen sollten, kommt im Ansatz der Weltbank ein wenig zu kurz. Demgegenüber stellt er aber sehr schön heraus, dass die schiere Existenz von Systemen der sozialen Sicherung zu positiven Verhaltensänderungen führen kann – und zwar selbst bei den Menschen, die gar keine Sozialleistungen beziehen, von diesen aber im Fall einer Verschlechterung ihrer Lebensumstände profitieren würden. Wissen diese Menschen nämlich, dass sie zumindest gegen die wichtigsten Risiken abgesichert sind, so sind sie eher bereit, in Maschinen oder in Bildung zu investieren, um sich selbst aus der Armut zu befreien. Trefflich nannte die Weltbank ihre erste Strategie für den Bereich soziale Sicherung daher: „From safety net to springboard“.
Eine im Umfeld des britischen Department for International Development (DFID) wirkende Gruppe von Wissenschaftlern hat in den Folgejahren den Versuch unternommen, eine konzeptionelle Brücke zwischen dem konventionellen Verständnis der ILO und dem neuen Konzept der Weltbank zu bauen und darin die jeweiligen Stärken miteinander zu verbinden. Eines ihrer zentralen Werke ist "Social protection for the poor and poorest: Concepts, policies and politics".
Im ersten Teil werden drei Philosophien der sozialen Sicherung miteinander verglichen. Sie werden mit den Begriffen "risiko-", "menschenrechts-" und "bedarfsorientiert" umschrieben, kommen aber dem sehr nahe, was in der deutschen Literatur als Versicherungs-, Versorgungs- und Fürsorgekonzept bezeichnet wird. Der zweite Teil des Buches wendet sich unterschiedlichen Sozialsystemen in Entwicklungs- und Schwellenländern zu, unter anderem den konditionierten Sozialtransferprogrammen in Lateinamerika, dem nichtkonditionierten Sozialtransferprogramm in Sambia und dem Arbeitsbeschaffungsprogramm in Äthiopien.
Leider bleibt unklar, nach welchen Kriterien die Auswahl erfolgte und welche Rückschlüsse aus den Einzelfallbetrachtungen insgesamt zu ziehen sind. Zudem hat das Buch eine Schwäche, unter der generell große Teile der britischen Literatur zur Thematik leiden: Die Autoren sind offensichtlich so stark von ihren eigenen Systemen der sozialen Sicherung im Vereinigten Königreich geprägt (die dem sogenannten Beveridge-Modell, also dem Fürsorgekonzept, entsprechen), dass sie auch in Entwicklungsländern vornehmlich steuerfinanzierte Systeme der sozialen Sicherung betrachten. Sie vernachlässigen das Sozialversicherungskonzept ebenso wie nichtstaatliche Systeme der sozialen Sicherung.
Reformkonzepte
Über die Vorzüge und Nachteile verschiedener Strategien zur Verbesserung der sozialen Sicherheit im informellen Sektor liegt ein deutschsprachiges Buch vor, das ich selbst 2009 veröffentlicht habe. Ein wenig zu kurz kommt darin allerdings, welche politischen Herausforderungen einer Verbesserung der sozialen Sicherheit im informellen Sektor beziehungsweise einer Reform der Sozialpolitik in Entwicklungsländern im Allgemeinen entgegenstehen. Zur Verbesserung könnten Sozialversicherungssysteme, Sozialtransfersysteme, Mikroversicherungen oder steuerfinanzierte Gesundheitssysteme beitragen.
Genau dem Aspekt von Sozialreformen ist der hervorragende Sammelband „Social protection in developing countries: Reforming systems“ gewidmet. Auch hierin wird zunächst die Frage diskutiert, welche Ziele Systeme der sozialen Sicherung eigentlich verfolgen und wie sie ausgestaltet sein sollten. Weitere Beiträge zeigen auf, wie stark Reformen vom politischen und vom Rechtssystem eines Landes abhängen, von historischen Voraussetzungen wie etwa der langjährigen Existenz eines Sozialversicherungssystems sowie von der Einstellung der Bevölkerung in Entwicklungsländern zu Fragen der Leistungs- und Verteilungsgerechtigkeit. Darauf folgen anschauliche empirische Beiträge zu den spezifischen Herausforderungen einer Reform der sozialen Sicherung in Indonesien, Vietnam, Südasien und der arabischen Welt. Und der letzte Abschnitt geht der spannenden Frage nach, welche Rolle externe Akteure wie Weltbank, UNICEF, ILO, internationale Nichtregierungsorganisationen und bilaterale Geber hierbei spielen und inwieweit diese Rolle für die Entwicklungsländer positiv ist.
Einen guten Überblick über die Existenz von sozialen Sicherungssystemen in den verschiedenen Teilen der Welt, ihren Deckungsgrad, ihre Leistungen und ihre Stärken und Schwächen bietet der World Social Protection Report der ILO, der letztmals 2014 erschienen ist. Besonders nützlich ist auch der ausführliche statistische Anhang des Berichts.
Einen ganz anderen Aspekt beleuchtet der Sammelband „Vulnerability in developing countries“. Er geht der Frage nach, warum Systeme der sozialen Sicherung überhaupt benötigt werden und warum Menschen in Entwicklungsländern in so hohem Maße verletzlich durch Risiken sind. Der erste Beitrag des Bandes widmet sich der Frage, wie Vulnerabilität definiert und wie sie gemessen werden kann. Auf ihn folgen einige Beiträge, die den Zusammenhang zwischen Vulnerabilität, Armut, Vermögen, Gesundheit, Bildung, Zugang zu Krediten und Sozialkapital untersuchen. Und am Ende wird die Bedeutung von spezifischen Risiken wie Nahrungsmittelknappheit, Naturkatastrophen und internationalen Finanzkrisen für Menschen in Entwicklungsländern diskutiert. Die Lektüre des facettenreichen Bandes macht vor allem eines deutlich: wie wichtig es ist, die spezifischen Lebensumstände und Herausforderungen der Menschen, denen Systeme der sozialen Sicherung helfen sollen, nie aus den Augen zu verlieren.
Markus Loewe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE). markus.loewe@die-gdi.de