Radikalisierung
Ein besseres Leben im Kalifat
Laut einer aktuellen ICG-Publikation haben in den vergangenen drei Jahren 2000 bis 4000 Männer und Frauen Usbekistan, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und die chinesische Xinjiang Region verlassen, um nach Syrien oder in den Irak zu gelangen. Die größte Gruppe der radikalisierten Migranten stellen die ethnischen Usbeken aus Usbekistan und Kirgistan dar. Sie werden häufig Opfer ethnischer und religiöser Diskriminierung, erleben gewaltsame Konflikte oder haben schlechte wirtschaftliche Aussichten, so die ICG-Autoren. Ihnen zufolge leidet die Region unter schlechter Regierungsführung, Korruption und hoher Kriminalität. Besonders betroffen sind die ländlichen Gebiete.
Turkmenistan und Usbekistan „ähneln autoritären Polizeistaaten“. Die Sicherheitskräfte in der Region seien schlecht ausgebildet, ausgestattet und bezahlt und kompensierten dies durch ein hartes Vorgehen, erläutern die Autoren. Schwache Staaten könnten nicht mit radikalem Islam umgehen. Indes sei die Idee eines Kalifats für viele anziehend. Ein Grund dafür ist, dass muslimische Organisationen soziale Leistungen anbieten, was viele Regierungen nicht hinbekommen.
Der ICG zufolge rekrutieren die Islamic Movement in Uzbekistan (IMU) und ihre Ableger ISIS-Kämpfer. Zwar agiere die IMU unabhängig von ISIS, die Terror-Miliz habe aber die „Zielstrebigkeit der IMU bekräftigt“.
Beweggründe für Frauen
Die ICG bemängelt, dass Regierungen die zunehmende Radikalisierung von Frauen nicht genügend beachten – und das, obwohl Frauen gezielt rekrutiert würden. Durch den Beitritt zu ISIS erhielten die Frauen mehr Unabhängigkeit. Denn sie können so der Kontrolle ihrer Familien entfliehen, stellen die Autoren fest. Außerdem schätzten Mütter die Sozialleistungen der militanten Islamisten. Manche Frauen hätten auch Verwandte, die nach Syrien oder in den Irak gegangen sind, denen sie folgten. Dort würden sie zu Kämpferinnen ausgebildet oder unterstützten die Miliz anderweitig.
Für Zentralasiaten ist es nicht schwer, nach Syrien oder in den Irak zu gelangen. Die ICG bestätigt, dass Flüge billig und die Grenzkontrollen schwach sind, und dass die Einreise in die Türkei ohne Visum möglich ist. Die Autoren zitieren einen usbekischen Entwicklungshelfer, der die Rekruten als „Kanonenfutter“ bezeichnet, da viele von ihnen keine Kampferfahrung haben.
Da die meisten Rekruten im Kampf stürben, geht nach Einschätzung der ICG-Autoren keine große Gefahr von wiederkehrenden Kämpfern aus. Dennoch könnten sie zum Risiko werden und deshalb fordern die Autoren Präventiv- und Wiedereingliederungsmaßnahmen. Sie warnen, dass harte Strafen für die Beteiligung an terroristischen Trainingscamps oder für einen Kampfeinsatz im Ausland nichts bewirken. „Null-Toleranz“-Ansätze könnten nach hinten losgehen, warnt das ICG-Team, vor allem weil zentralasiatische Länder sowieso schon repressiv regiert würden. Die Autoren kritisieren, dass bisher zu wenig geschah, um die Ursachen anzugehen, warum sich Bürger radikalen Gruppen im Ausland anschließen. Bislang habe nur Usbekistan ein Präventionsprogramm gestartet, bei dem Familien mit Extremismus-Risiko beraten werden. Laut ICG sei noch nicht klar, ob das Programm Erfolg habe und auf nationaler Ebene angewandt werden könne.
Auf regionaler Ebene könnte die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) eine wichtige Rolle spielen, um die Lage zu verbessern. Die Institution ist laut ICG-Experten aber eher unerfahren. Die EU und die USA sollten erkennen, dass Zentralasien für die ISIS-Rekrutierung immer wichtiger werde und die jeweiligen Regierungen bei der angemessenen Reaktion auf die Gefahren unterstützen. Bislang blieben größere Anschläge in Zentralasien aus. Dennoch fordern die Autoren schnelles und präventives Handeln.
Theresa Krinninger
Link:
International Crisis Group: Syria Calling: Radicalisation in Central Asia.
http://www.crisisgroup.org/~/media/Files/asia/central-asia/b072-syria-calling-radicalisation-in-central-asia.pdf