Libanon
Schnelle Reformen sind nicht in Sicht
Die Freude war sehr groß, als Ende Oktober 2019 der damalige Ministerpräsident Saad Al Hariri zurücktrat. Er kam den Forderungen der abertausenden Demonstranten nach, die in verschiedenen Städten des Libanons auf die Straßen gegangen waren und politische Reformen gefordert hatten. Der Anfang dafür sollten der Rücktritt der Regierung und die Bildung einer Übergangsregierung aus Technokraten sein. Es schien für einen Moment, als ob die Zivilgesellschaft stark genug wäre, Druck auf Libanons politische Klasse auszuüben.
Die neue Regierung, die unter Führung des Hochschulprofessors Hassan Diab entstand, führte zwar das Etikett „technokratisch“ – ihre Mitglieder hatten keine Parteibücher. Aber ihre Loyalitäten galten eindeutig den herrschenden politischen Kräften und Persönlichkeiten im Land. Diese Regierung musste wenige Tage nach der verheerenden Explosion vom 4. August 2020 am Beiruter Hafen zurücktreten, die zu mehr als 200 Toten, tausenden von Verletzten und 300 000 Obdachlosen führte (siehe meinen Kommentar in E+Z/D+C e-Paper 2020/09, Debatte). Jetzt soll der alte Ministerpräsident auch der neue werden: Hariri übernimmt abermals die Regierungsbildung.
Die Reaktionen auf Hariris Rückkehr sind unterschiedlich. Einige Menschen empfinden tiefen Frust angesichts der Aussicht auf eine Wiederauflage allzu bekannter Absprachen zwischen den korrupten Kräften im Land. Es erscheint wie ein Déjà-vu – Politik nach altem Muster. Andere halten den politisch erfahrenen Hariri, der gute Beziehungen zum westlichen Ausland unterhält und Vertrauen bei den Banken genießt, für den richtigen Kandidaten, um in diesen turbulenten Zeiten konkrete Maßnahmen in Angriff zu nehmen.
Die Lage im Libanon könnte kaum schwieriger sein. Der Staat ist bankrott. Die Bankenkrise hat die Bürgerinnen und Bürger um ihr Erspartes gebracht. Jeden Tag stehen Menschen Schlange vor den Banken, in der Hoffnung, kleinere Beträge abheben zu dürfen. Die Armut nimmt rapide zu. Nach Angaben der UN-Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien (Economic Commission for Western Asia – ECWA) leben mehr als 55 Prozent der Libanesen in Armut, fast doppelt so viele wie letztes Jahr.
Der Staat ist mit der Covid-19-Pandemie überfordert. Wer kann, verlässt das Land. Der Politologe Nasser Yassin von der Amerikanischen Universität in Beirut (AUB) spricht bereits von der dritten Auswanderungswelle in der Geschichte des Libanons. Die erste fand Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts statt, als ein Bürgerkrieg und der Zusammenbruch der Seidenherstellung die Menschen vertrieb. Die zweite Welle ereignete sich vor und während des Bürgerkrieges von 1970 bis 1990. Und nun ist es die schwerste politische und wirtschaftliche Krise der jüngeren Geschichte, verstärkt noch durch die Folgen der Coronapandemie. Gut ausgebildete Libanesinnen und Libanesen wandern nach Australien, Kanada oder in die USA aus. Auch illegale Wege werden genutzt: Regelmäßig verlassen Boote die libanesische Küste Richtung Zypern.
Unerfüllte Hoffnungen
Vor nicht allzu langer Zeit, im Oktober 2019, blickten viele Libanesen noch voller Hoffnung in die Zukunft. Begeisterung und Aufbruchstimmung erfasste die Menschen in allen Landesteilen. Sogar Auslandslibanesen kamen zurück, um bei den „Oktober-Protesten“ dabei zu sein und mitzuerleben, wie sich das reformbedürftige politische System dem Druck der Straße beugt. Ein Jahr später ist von dieser Stimmung nichts mehr zu spüren. Die Forderungen der Demonstranten stehen immer noch auf den Wänden der Beiruter Innenstadt. Aber Proteste finden nur noch sporadisch statt, die Aktivisten sind weitgehend unsichtbar geworden.
Es ist nicht gelungen, den hohen Grad der Mobilisierung über Monate aufrechtzuerhalten, schreibt Lyna Gomaty für das Lebanese Center for Policy Studies (LCPS). Gomaty hat aktiv an den Demonstrationen teilgenommen. Selbstkritisch bemerkt sie, dass die Aktivisten es nicht geschafft hätten, andere Formen der Mobilisierung hervorzubringen oder eine nachhaltige Infrastruktur aufzubauen. Die Mehrheit von ihnen habe sich nicht in Gruppen oder Parteien organisiert.
Aus diesen Gründen konnten die Demonstrationen den Mächtigen nicht wirklich gefährlich werden. Hinzu kommt, dass die Wirtschaftskrise die Menschen gezwungen hat, sich auf das eigene Überleben zu konzentrieren. Angesichts fehlender staatlicher Sozialleistungen erscheint vielen Libanesen der Klientelismus gerade jetzt als Retter in der Not, und sie wenden sich hilfesuchend an politische und religiöse Führer, obwohl ihnen bewusst ist, dass gerade diese Führer die Basis des korrupten Systems sind. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die öffentlichen Proteste nachgelassen haben. Zudem hat das zunehmend brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten viele davon abgeschreckt, weiter auf die Straße zu gehen.
Auf den ersten Blick erscheint die Lage aussichtslos – als gäbe es keine Hoffnung auf Veränderung im Libanon. Setzt man jedoch die „Oktober-Revolution“ in einen größeren Kontext von Protesten seit dem Ende des Bürgerkrieges 1990, dann fällt das Urteil nicht so düster aus. Widerstand gegen soziale Ungerechtigkeit, Misswirtschaft und Korruption hat in den vergangenen Jahren nie aufgehört. Im Gegenteil: Die Intensität hat zugenommen. Das stellt eine vielversprechende Aussicht für die Zukunft dar. Eine Errungenschaft der „Oktober-Proteste“ ist jedenfalls bereits sicher: die Politisierung der jungen Generation.
Quellen
LCPS: Why did the October 17 revolution witness a regression in numbers?
http://lcps-lebanon.org/agendaArticle.php?id=199
Soziale Proteste im Libanon:
https://thepublicsource.org/mapping-collective-action-lebanon-protests
Mona Naggar ist Journalistin und Trainerin. Sie lebt in Beirut, Libanon.
mona.naggar@googlemail.com