Kirchliche Entwicklungszusammenarbeit
Die Ressource Hoffnung
Wie sieht Brot für die Welt die Rolle von Glauben, Religion und religiösen Werten in der Entwicklungsarbeit?
Glaube und Religion haben in vielen Teilen der Welt große Bedeutung und sind wirkmächtiger Teil der Realität. Wir sind in Europa und insbesondere in Deutschland schnell dabei, Religion keine große Bedeutung mehr beizumessen. Das stimmt für den sogenannten globalen Süden jedoch nicht. Und ich würde auch für Deutschland und Europa die Frage stellen, ob der Säkularisierungsdiskurs immer richtig abbildet, was tatsächlich passiert. Wir leiten etwa von sinkenden Mitgliederzahlen der Kirchen ab, dass Religiosität abnimmt. Das ist aber nur eine Ebene und sagt noch nichts darüber aus, ob sich Menschen als religiös oder spirituell definieren. Entwicklungspolitik muss dem Rechnung tragen, dass Religion und Spiritualität zum Menschsein gehören.
Wenn wir von Werten sprechen, ist Partnerschaftlichkeit für uns als kirchliches Entwicklungswerk ein wichtiger Wert. Wir arbeiten durch Partnerorganisationen und implementieren Projekte nicht selbst. Unser eigener christlicher Glaube stellt uns dabei unmissverständlich an die Seite der Armen; jener, die am Rande der Gesellschaft stehen. Kirche kann nur Kirche sein, wenn sie sich diese Parteinahme in ihr Wesen und ihre Organisation einschreibt. Das bildet sich in kirchlicher Entwicklungszusammenarbeit ab, und daraus folgt sehr viel – wie etwa, dass zu Weihnachten für Brot für die Welt in den protestantischen Gottesdiensten gesammelt wird. Das ist kein Add-on, sondern als jene Parteinahme für die Armen ein Kernanliegen des Christentums.
Wie kann Religion in der Entwicklungszusammenarbeit konkret genutzt werden?
In vielen afrikanischen Ländern sind zum Beispiel große Bereiche des Gesundheits- und Bildungssystems in kirchlicher Trägerschaft. Wer diese Systeme stärken will, findet in den Kirchen wichtige Partner. Denn insbesondere in ländlichen Regionen sind zivilgesellschaftliche Strukturen – und Kirche ist Teil der Zivilgesellschaft – Voraussetzung, um Zugang zu Menschen zu erhalten.
Gleichzeitig müssen wir uns immer darüber im Klaren sein, dass Religion in der Entwicklungspolitik sowohl Teil der Lösung als auch des Problems sein kann. Religion kann inhaltlich unterschiedlich gefüllt und gelebt werden und ist daher als ambivalent zu betrachten – deshalb müssen die jeweiligen Kontexte genau analysiert und durchaus auch unterschiedlich beurteilt werden.
Können Sie ein Beispiel nennen?
In der Covid-19-Pandemie haben wir gesehen, dass Impfen weltweit plötzlich zu einer Art Glaubensfrage wurde und wissenschaftliche Erkenntnisse in den Hintergrund traten. Viele Menschen im globalen Süden ließen sich eher impfen, wenn eine Vertrauensperson aus ihrer Religionsgemeinschaft dies empfohlen hatte. Gerade religiöse Gemeinschaften können Vertrauen stiften – und das braucht es vor allem in krisenhaften Situationen. Dabei verschließe ich meine Augen jedoch nicht vor der oben genannten Ambivalenz.
Die Stärke der Religionsgemeinschaften liegt gleichzeitig darin, dass sie von Zukunft und Hoffnung sprechen können. Eine zentrale Botschaft des Christentums ist die Hoffnung, dass sich Verhältnisse ändern können, weil sie schon einmal auf den Kopf gestellt worden sind, und dass Gott für die Menschen ein Leben in Würde und Gerechtigkeit will.
Welche Rolle sollten religiöse Organisationen etwa bei der Förderung von sozialem Zusammenhalt und Frieden spielen?
Die Arbeit, wie wir und unsere Partner sie verstehen, wird von der Frage geleitet, was Zukunft schafft. Und bei der Frage nach der Zukunft gehören für mich als Protestantin Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung als Dreiklang eng zusammen. Dabei ist Frieden mehr als die Abwesenheit von Krieg, sondern auch gerechte Teilhabe.
Dazu können wir mit unseren Partnern beitragen, indem wir etwa Räume schaffen, in denen Fragen diskutiert und ausgehandelt werden können. Darüber hinaus brauchen wir für dauerhaften Frieden aber auch einen Umgang mit der Aufarbeitung von Traumata, Vergebung und Versöhnung. Hier können Kirchen wichtige psychosoziale Unterstützung leisten, denn sie sind in vielen Krisenregionen Anlaufstelle für Seelsorge und Begleitung, um mit Themen wie Tod, Krankheit und Gewalt umzugehen. Wenn dort Vertrauen miteinander geteilt und gestaltet wird, werden Menschen getröstet, wächst Hoffnung auch angesichts von massenhaftem Sterben – und es bildet sich Gemeinschaft, in der das Leben neu gewagt werden kann.
Gibt es Fälle, in denen Glaubensüberzeugungen mit entwicklungspolitischen Zielen in Konflikt geraten? Wie handhaben Sie solche Situationen bei Brot für die Welt?
Grundsätzlich haben wir einen Verhaltenskodex, der sowohl für kirchliche als auch für nichtkirchliche Partner gilt und das Vorgehen im Fall von Diskriminierung oder Menschenfeindlichkeit regelt. Darüber hinaus sehe ich es als Aufgabe für uns als Organisation, Orte zu schaffen, an denen schwierige Themen verhandelt werden können und müssen.
Und was wichtig ist: Wir fördern nicht Religion, sondern entwicklungspolitische Arbeit für mehr Gerechtigkeit. Wir fördern die soziale und diakonische Arbeit von Kirchen – nicht die Kirchen selbst. Unsere Partnerkirchen sind unabhängige, eigenständige Kirchen, sie organisieren ihr Gemeindeleben und ihre inhaltliche Arbeit in eigener Verantwortung. Wo ihre Arbeit dann entwicklungspolitisch relevant wird, setzen wir an und kommen als Partner hinzu. In dieser Rolle möchten wir sie stärken. Das ist unser wichtiges – zugleich aber auch begrenztes – Mandat.
Mit welchen Organisationen anderer Glaubensrichtungen arbeitet Brot für die Welt zusammen, und wie gestalten sich diese Kooperationen?
Wir schauen immer, was Sinn ergibt. Interreligiöse Arbeit ist herausfordernd. Sicherlich können solche Projekte unglaubliche Kraft entwickeln, etwa wenn sich in Sierra Leone christliche und muslimische Führungsfiguren einig sind, dass Genitalverstümmelung falsch ist. Es gibt aber auch andere Handlungsfelder, bei denen es kaum möglich ist, eine gemeinsame Basis für interreligiöses Engagement zu finden. Diese Grenzen achten wir.
Können Sie konkrete Projekte oder Beispiele nennen, die interreligiöse Zusammenarbeit veranschaulichen?
In Myanmar unterstützen wir eine buddhistisch-christliche Kooperation junger Menschen zum Thema Friedensförderung, in Indonesien ein Programm für christliche, muslimische und hinduistische Gruppen zusammen. Auch hier geht es um Dialog und Friedensförderung, ebenso wie um Themen wie Nachhaltigkeit.
Wir fragen in jedem Kontext, wen wir vor Ort miteinbeziehen können und wo es Strukturen für Entwicklungszusammenarbeit gibt – denn das ist ja unser eigentliches Anliegen. Unsere Partner vor Ort haben meist eine sehr klare Vorstellung davon, mit welchen anderen gesellschaftlichen Kräften im Land wir uns für ein bestimmtes Ziel verbünden können – und wo das nicht möglich ist. Dieses Urteil unserer Partner ist für uns handlungsleitend.
Welche besonderen Herausforderungen sehen Sie in der Zusammenarbeit mit Organisationen anderer Religionen?
Wir arbeiten mit anderen Religionsgemeinschaften zusammen, wo sich gemeinsame Anliegen und Ziele finden lassen. Wir respektieren unterschiedliche weltanschauliche Prägungen, genauso wie wir uns wünschen, dass unsere christliche Identität respektiert wird. Offene Gespräche über gemeinsame Schnittmengen in der Zusammenarbeit, aber auch über Unterschiede und Grenzen, sind der beste Weg, mit Vielfalt umzugehen.
In Konfliktsituationen muss sorgfältig analysiert werden: Handelt es sich hier tatsächlich um einen religiösen Konflikt, oder wird Religion als Vehikel genutzt und letztlich instrumentalisiert, um etwas zu artikulieren, das eigentlich auf einer ganz anderen Ebene liegt? Ist es etwa ein Kampf um die Verteilung knapper Ressourcen oder bezieht er sich auf die Anerkennung unterschiedlicher ethnischer Identitäten? Je nachdem muss anders mit dem Konflikt umgegangen werden.
Und es ist deutlich: Menschen, die ihre eigene Religion gut kennen und in ihr sprachfähig sind, können sich viel besser dagegen wehren, wenn ihr Glaube für machtpolitische Konflikte instrumentalisiert werden soll. Eine gute Durchdringung des eigenen Glaubens schützt tatsächlich vor solchem Missbrauch von Religion. Insofern kann auch gute religionsbezogene Bildung enorme friedensfördernde Effekte erzielen. Wo wir dagegen sprachlos bleiben angesichts von Religion oder meinen, dass wir sie ausklammern könnten, haben Kräfte, die Religion fundamentalistisch umformen und besetzen wollen, ein leichtes Spiel.
Wie spielt das Thema Umwelt- und Klimaschutz in Ihrer Arbeit eine Rolle?
Ich habe den Dreiklang schon angesprochen, der uns als Grundsatz dient: Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Und ich finde es wichtig, hierbei von Schöpfung zu sprechen und nicht von der Bewahrung der Natur. Beim Erreichen von Klimazielen ist es wichtig, sich deutlich zu machen, dass auch wir Geschöpfe sind. Und zwar Mitgeschöpfe – wir herrschen nicht über die Natur, wir stehen ihr nicht gegenüber, sondern wir sind ein Teil von ihr. Schöpfung ist Gabe und zugleich Aufgabe an uns. Das ist eine Erkenntnis, die auch jenseits von Religion oder interreligiös tragfähig ist, wo wir gemeinsam nach der Rolle des Menschen bei der Gestaltung eines zukunftsfähigen Lebensstils in planetaren Grenzen fragen.
Aus der Gabe erwächst der Auftrag, die Erde zu hüten, auch für zukünftige Generationen. Für uns als kirchliche Entwicklungsorganisation hat das Thema aber auch mit Gerechtigkeit und der erwähnten Parteinahme für die Armen zu tun: Wir müssen an Gerechtigkeit arbeiten – zwischen jenen, die den Klimawandel verursacht haben und weiter verursachen, und denen, die am stärksten darunter leiden. Auch hier kommt wieder die Gemeinschaft ins Spiel: Die Erkenntnis, dass es ein „Wir“ gibt, das größer ist als das „Ich“.
Welche Überschneidungen und Herausforderungen sehen Sie zwischen einer feministischen Entwicklungspolitik und einer glaubensbasierten Organisation?
Ich bin feministische Theologin, daher stehe ich feministischer Entwicklungspolitik natürlich nahe. Feministische Theologie hat beispielsweise in der Bekämpfung von HIV/Aids eine starke Rolle gespielt. Gleichzeitig gibt es auch hier Herausforderungen: politisch, kulturell, religiös. Mit Blick auf Gendergerechtigkeit kann Religion wieder beides sein, Teil des Problems und Teil der Lösung.
Im Islam und im Christentum, den beiden größten Religionen, gibt es nach wie vor wenige ordinierte Frauen. Deshalb ist es in unserer Arbeit sehr wichtig, feministische Theolog*innen oder auch queere Netzwerke zu fördern. Feministische Theologie ist Befreiungstheologie.
Bitte erklären Sie kurz, was Befreiungstheologie ist.
Diese theologische Richtung kommt ursprünglich aus Lateinamerika. Im Mittelpunkt steht die Frage, welche Ressourcen wir in der Theologie und in unserem Glauben haben, um die Verhältnisse so zu verändern, dass wir Gerechtigkeit leben können. In Bezug auf feministische Theologie würde das bedeuten, zu schauen, welche Bibelstellen, Gottesbilder und Überlegungen uns befähigen, den Kampf für Gleichberechtigung aufzunehmen. Bibellektüre spielt im Protestantismus grundsätzlich eine große Rolle. Das hebräische Wort für „erbarmen“ heißt „racham“. Dieses Wort hat die gleiche Wurzel wie das Wort „rächäm“, das „Mutterschoß“ bedeutet. Was folgt aus diesem Befund für unser Gottes- und Menschenbild, für unsere Sprache und die Ausgestaltung von Geschlechterrollen?
Wie sehen Sie die Zukunft der Rolle von Religion in der Entwicklungspolitik?
Da bin ich wieder bei meinen Eingangsstatement: Religion ist eine Dimension, die sich nicht ausschalten lässt, weil wir sonst Möglichkeiten und Ressourcen aufgeben würden, Menschen zu erreichen.
Wir erleben im Moment, dass Entwicklungspolitik sehr infrage gestellt wird, ob kirchlich oder nicht. Das ist fester Teil des autoritär-nationalistischen Diskurses. Ich wünsche mir, dass die Politik hier genau in den Blick nimmt, was wir an dieser Stelle aufgeben würden.
Die kirchlichen Entwicklungswerke bekommen nach wie vor viele Spenden. Wir sollten auch nicht vergessen, dass hier und im globalen Süden viele Menschen sind, die hinter diesen Werken stehen und ehrenamtlich hoch engagiert sind. Gerade das Ehrenamt ist überall eine unglaublich starke Ressource der kirchlichen Arbeit.
Dieses Engagement widerspricht denen, die behaupten, Religion wächst sich aus. Ich muss nicht selbst religiös sein, um zu erkennen, warum religiöse Entwicklungspolitik eine besondere Rolle spielt. Anstatt solche Nebenschauplätze aufzumachen, kommt es darauf an, dass wir alle als demokratische Kräfte gegenüber Angriffen auf unsere Demokratie zusammenstehen.
Ich habe die Ressource Hoffnung bereits angesprochen. Die extrem Rechten auch in unserem Land machen mit Hoffnungslosigkeit Politik. Religion, Glaube und Spiritualität ermöglichen es Menschen immer wieder, Hoffnung auf eine Veränderung der Verhältnisse und eine gerechtere Zukunft zu schöpfen. Das ist die gute Nachricht, von der wir leben – ganz besonders in der kirchlichen Entwicklungsarbeit.
Dagmar Pruin ist die Präsidentin von Brot für die Welt.
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