Welternährung

Es ist genug für alle da

Noch immer leiden fast 800 Millionen Menschen an chronischem Hunger. Politik, Agrarwirtschaft und Wissenschaft streiten über Ursachen und Lösungen. Eine gängige Annahme lautet: Wenn Menschen hungern, gibt es nicht genug zu essen. Aber so einfach ist es nicht.
Globale Ernährungssicherheit braucht kleinbäuerliches Wissen: Landwirtin in Äthiopien. picture-alliance/KEYSTONE/OBS/STIFTUNG MENSCHEN FUER MENSC Globale Ernährungssicherheit braucht kleinbäuerliches Wissen: Landwirtin in Äthiopien.

Wir brauchen nicht schlichtweg mehr Nahrungsmittel, um den Hunger zu besiegen. Lösungen, die sich an Mengensteigerungen orientieren, gehen an den Ursachen der globalen Ernährungskrisen vorbei. Es gibt weltweit schon seit Jahrzehnten genug zu essen für alle.

Die vereinfachende Debatte rund um Mengensteigerungen nahm kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine jedoch erneut Fahrt auf und suggerierte der EU, am besten alle ökologischen Vorgaben in der Agrarpolitik zurückzufahren. 

Technische Innovationen – von digitaler Drohnen-Landwirtschaft bis zu chemischem Dünger oder genveränderten Sorten – sollten die Erträge steigern.

Vieles davon wurde in die Tat umgesetzt. Die EU-Kommission setzte ökologische Vorgaben zur Fruchtfolge und Flächenstilllegung (Standards für den guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand von Flächen, „GLÖZ“ 7 und 8) aus. Die G7-Staaten baten die Weltbank darum, Kredite bereitzustellen, damit Länder mit niedrigem Einkommensniveau mehr chemischen Dünger kaufen können. Agrarkonzerne machten in der Folge riesige Gewinne und konnten Rekord-Dividenden an ihre Aktionäre ausschütten.

Es ist ein doppelter Skandal, dass Millionen das Menschenrecht auf angemessene Ernährung verwehrt und diese Misere dann nur allzu häufig für eigene Wirtschaftsinteressen missbraucht wird – sei es durch Spekulation auf hohe Getreidepreise oder Intensivierung eines klimaschädlichen Landwirtschaftsmodells, um immer mehr Land für Mais, Reis, Soja und Weizen zu verbrauchen. Das Motto lautet immer: Viel hilft viel.

Das ist ein falscher Ansatz. Bereits 2010 arbeitete Brot für die Welt, das global tätige Entwicklungswerk der evangelischen Kirchen in Deutschland, mit einem ganz anderen Aktionsmotto: „Es ist genug für alle da.“ Schon heute könnte die Menge aller weltweiten Ernten mehr als 10 Milliarden Menschen ernähren. Laut einer Studie der University of California von 2022 stehen – gemessen an den Ernten – jedem Menschen täglich 5600 Kalorien zur Verfügung. Das ist mehr als genug, damit kein Mensch auf der Welt hungern müsste – laut Welternährungsorganisation (FAO) nimmt ein durchschnittlicher Mensch rund 2600 Kalorien zu sich.

Hunger ist kein Mengenproblem

Wenn es also genügend Nahrung gibt, bleiben nur drei Antworten auf die Frage übrig, warum immer noch Millionen Menschen an Hunger leiden: Entweder werden die Ernten nicht zur direkten Ernährung genutzt, die Nahrung kommt nicht dort an, wo sie gebraucht wird, oder die betroffenen Menschen können sich eine gesunde, ausgewogene Ernährung nicht leisten.

Leider treffen alle drei Antworten zu. Fast die Hälfte der Erntemengen landet als Tierfutter in Trögen. Eine weitere große Menge bleibt aufgrund von logistischen Defiziten wie nicht vorhandenen Lagern auf den Feldern liegen. Ein zusätzliches Problem ist die Verschwendung von Lebensmitteln in den Industrieländern durch Handel und Haushalte. Und nicht zuletzt werden durch den zunehmenden Einsatz von Lebensmitteln für Biokraftstoffe und -plastik weitere Nahrungsmittel nicht für die menschliche Ernährung genutzt.

Statt also weiter die immer knapper werdenden Agrarflächen mit chemischen Düngern auf Ertragsrekorde zu trimmen, damit sie über Futterpflanzen oder Agrotreibstoffe (etwa Raps oder Mais) auch Zwecken wie Fleischkonsum und Benzinverfügbarkeit dienen, muss die globale landwirtschaftliche Produktion sich wieder auf ihren ursprünglichen Zweck besinnen: den Anbau von Nahrungsmitteln zur Sicherung des Rechts auf Nahrung.

Brot für die Welt unterstützt einen ganzheitlichen Ansatz der Agrarproduktion: Die Agrarökologie ist ein System, in dem Landwirt*innen und Konsument*innen gemeinsam darüber wachen, wie, was, von wem und zu welchem Zweck produziert wird. Wir fördern die weitere Entwicklung dieses Ansatzes durch Forschung, digitale Innovationen, Bildung, Geschlechtergerechtigkeit und demokratische Partizipation und setzen uns damit für Ernährungssouveränität ein.

Agrarökologie als Krisenreaktion

In den aktuellen Krisen wird deutlich, wie erfolgreich Agrarökologie vor ihnen schützen kann. Die Unabhängigkeit von Extrempreisen bei Betriebsmitteln, die lokale Nähe zu den Absatzmärkten und schnelle Reaktionen auf Getreidemangel durch Neuaussaat von lokalen Sorten weckten in Landwirtschaft, Politik und Handel das Interesse an Agrarökologie.

In diesem Kontext erwarten wir vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) bei der Planung und Umsetzung neuer Projekte und Aktivitäten die agrarökologischen Elemente der BMZ-Kernthemenstrategie „Leben ohne Hunger – Transformation der  Agrar- und Ernährungssysteme“ stark zu priorisieren. 

Unverständlich bleibt, warum das BMZ in Kenia mit einem Kredit in Höhe von 60 Millionen Euro die Produktion von Stickstoffdünger durch „grüne“ Wasserstoffherstellung fördern will. Der damit hergestellte Harnstoff bleibt ein chemischer Dünger mit erheblichen Schäden für Bodenfruchtbarkeit, Klima (Lachgasfreisetzung) und das Grundwasser (Nitrat).

Die Krisenfestigkeit der Agrarökologie wird sich vor allem im Angesicht der voranschreitenden Klimakrise bewähren müssen. Fast ein Drittel der CO2-Emissionen stammt aus Landwirtschafts- und Ernährungsindustrie. Schon deswegen wäre der Ausbau einer mengenfixierten Landwirtschaft ein Schritt in die falsche Richtung.

Wir brauchen das Wissen und die Methoden von Kleinbäuer*innen und müssen ihre Rechte stärken, da sie schon jetzt die Hauptlast der Nahrungsproduktion tragen. Viele ihrer Vorschläge sind in den letzten zehn Jahren in die Berichte von Expert*innen im Welternährungsausschuss (CFS) eingegangen. Viel zu viele davon wurden durch den Widerstand der Agrarindustrie und Agrarexportländer blockiert.

Vor allem zurückgehende Niederschläge und absinkende Grundwasserspiegel werden die landwirtschaftliche Produktion der nächsten Jahrzehnte prägen. Der Regenfeldbau wird schwieriger. Moderne Bewässerungstechniken auf Basis einer Grundwasser(über)nutzung können das langfristig nicht ausgleichen.

Auch hier sind agrarökologische Erfahrungen hilfreich, etwa im Hinblick auf die effizientere Nutzung von Regenwasser durch traditionelle Rückhaltetechniken, Agroforstsysteme wie Permakultur, den Neubau von Zisternen oder die Nutzung alter, dürreresistenter Pflanzen und Sorten.

Die politische Förderung sollte sich auf diese Ansätze konzentrieren und nicht auf rein technische Lösungen zur Ertragssteigerung. Denn: Es ist genug für alle da.

Dagmar Pruin ist die Präsidentin von Brot für die Welt.
presse@brot-fuer-die-welt.de