Menschenrechte

Weshalb indigene Spiritualität wichtig ist

Obwohl Wissen und Praktiken indigener Völker ökologisch höchst relevant sind, werden ihre kosmologischen Vorstellungen oft nicht ernst genommen. Frank Schwabe, der Beauftragte der Bundesregierung für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, erklärt im E+Z/D+C-Interview, weshalb das destruktiv ist.
„Indigenes Land ist kein Ackerland“: Protest beim Gipfel der Amazonasstaaten im brasilianischen Belém im Sommer 2023. picture-alliance/AA Filipe Bispo „Indigenes Land ist kein Ackerland“: Protest beim Gipfel der Amazonasstaaten im brasilianischen Belém im Sommer 2023.

Auf welche Weise ist die Religionsfreiheit indigener Völker bedroht?

Wichtig ist zunächst, dass Indigene selbst und ihre Lebensweisen bedroht sind, und das hat auch eine religiöse Dimension. Die Weltkonferenz zur Biodiversität hat in Kolumbien kürzlich festgehalten, dass diese Völker wesentlich zum Erhalt der Natur beitragen. Sie sind auch für den Klimaschutz wichtig. Ihre Wissenssysteme sind jedoch spirituell kodiert, denn sie beruhen nicht auf wissenschaftlichen Studien. Aus verschiedenen Gründen wird indigene Spiritualität meist weder von der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft noch von der internationalen Politik ernst genommen. Das hat eine lange Geschichte, die mit der Kolonialisierung anfängt. Bis heute sind Indigene und ihre Weltanschauungen in der öffentlichen Diskussion weitgehend unsichtbar. Dabei spielt auch eine Rolle, dass es Menschen, die sich für aufgeklärt halten, widerstrebt, spirituelle Kategorien zu akzeptieren.

Hat das Folgen – zum Beispiel, wenn bei Landkonflikten die Gewohnheitsrechte und das Gewohnheitseigentum indigener Gruppen verletzt werden?

Ja. In Honduras habe ich zum Beispiel erfahren, dass staatliche Institutionen oft gar nicht verstanden, worum es Indigenen in solch einer Auseinandersetzung ging. Sie forderten keine Landtitel für klar abgegrenzte Gebiete. Sie wollten einen Diskurs darüber führen, wie bewaldetes Land genutzt werden darf, und zwar unabhängig davon, wem nun welcher Hektar gehört. Aus der ethnologischen Forschung wissen wir, dass es im kosmologischen Denken vieler indigener Völker absurd ist, Land mit Strichen abzuteilen. Sie sehen Menschen in der Regel als Teil der Natur, also nicht die Natur als Umwelt der Menschen. Sie finden es inakzeptabel, andere zu Objekten des Handelns zu machen. Dass indigene Kosmovisionen Respekt verdienen, folgt aus der ILO-Konvention 169, dem Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation über Indigene Völker.

Diese besagt auch, dass auf dem Gebiet indigener Völker große Infrastruktur- oder Bergbauvorhaben nur mit deren „free, prior, informed consent“ zulässig sind. Das heißt, die Indigenen müssen freiwillig und auf der Basis umfassender Information zustimmen. Wenn ihre Vorstellungen aber gar nicht zum geltenden Gesetz über Landbesitz passen, wird das schwierig.

Genau, und das ist ein Grund, weshalb mein Anliegen ist, auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene Diskurse in Gang zu bringen, die solche Dinge aufgreifen. Daraus folgen dann nicht unmittelbare Handlungsanweisungen, denn es geht erstmal um besseres Verstehen. Wenn wir den Fokus so erweitern, wird das aber letztlich auch bei uns Effekte haben.

Die Menschenrechte indigener Gruppen werden vielfach verletzt. Ist die Annahme, dass Regierungen ausgerechnet auf ihre Religions- und Weltanschauungsfreiheit mehr Rücksicht nehmen werden, nicht naiv?

Das nehme ich auch gar nicht an. Es ist trotzdem wichtig, darauf hinzuweisen, dass auch dieses Recht regelmäßig verletzt wird, um so den Debattenraum zu erweitern und die Sensibilität für indigene Anliegen generell zu stärken. Der 3. Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit hat das getan. Er wird demnächst auf Spanisch gemeinsam mit Fotos der Dokumentarfilmerin Paola Tamayo auch als Buch publiziert, was zivilgesellschaftliche Gruppen in Lateinamerika nützlich finden. Obendrein gibt es immer wieder Fälle, in denen Gerichte die Religionsfreiheit indigener Menschen in Urteilen benennen und berücksichtigen, nachdem andere staatliche Stellen und privatwirtschaftliche Unternehmen sie zuvor ignorierten.

Das ist auch in Indien schon geschehen.

Tatsächlich findet die Justiz in vielen Ländern internationale Rechtsprinzipien zunehmend wichtig. Das gilt selbstverständlich besonders dort, wo Staaten die entsprechenden Verträge ratifiziert oder sogar in nationales Recht umgesetzt haben. Diese Entwicklung ist für Indigene und andere Minderheiten gut.

Vielfach berufen sich repressive Akteure selbst auf ihre Glaubensidentität. Ein Beispiel war die Unterstützung von Evangelikalen für die umweltzerstörende Forstpolitik des rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro.

Regierungen mit autoritären Neigungen unterstützen oft die Religionsfreiheit – zumindest auf dem Papier. Sie meinen damit aber meistens nur die Freiheit ihrer eigenen Religion. Beim Stichwort Religionsfreiheit denken jedoch nicht nur rechtspopulis­tische Kräften wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán vor allem an das Christentum. Das geht auch europäischen Mitte-rechts-Parteien ähnlich. Eher linke und liberale Kräfte interessieren sich dagegen oft gar nicht für das Thema. Ich finde es wichtig, den Gedankenraum in alle Richtungen zu öffnen, denn es geht wirklich um ein grundlegendes Recht. Viele übersehen, dass es in manchen Weltgegenden auch Diskriminierung von Humanisten, Atheisten und Nichtreligiösen gibt.

Den Islam sehen in Europa viele Menschen unabhängig davon, welche Parteien sie wählen, nicht als wichtige Weltreligion, sondern als Gefahr. In gewissem Maß wirkt interreligiöser Dialog zwischen Mitgliedern christlicher Kirchen und Angehörigen muslimischer Glaubensrichtungen dem entgegen. Ist solch ein interreligiöser Dialog auch mit indigenen Weltanschauungen möglich, obwohl diese meist keine heiligen Schriften und ausformulierte Theologien haben?

Das ist sehr kompliziert, aber es gibt in Lateinamerika Austausch zwischen Christentum und indigenen Weltanschauungen. Ein wichtiger Vorreiter ist Kardinal Álvaro Ramazzini aus Guatemala. Er setzt sich als katholischer Geistlicher seit Langem für die Interessen der armen Landbevölkerung ein, die größtenteils Maya-Völkern angehört. Dass er mit großer Wertschätzung auf Indigene zugeht, findet breiten Anklang. Allerdings ist das erst der Anfang eines echten Dialogs – und zwar über 500 Jahre nach dem Beginn der Kolonialisierung und der begleitenden Missionierung.

Westliche Regierungen betonen gern die „regelbasierte Weltordnung“, aber viele Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika empfinden das als doppelbödig, weil internationale Bestimmungen ihre Interessen oft nicht – oder zumindest nicht wirksam – schützen. Auch beim Thema Menschenrechte wird uns häufig Doppelmoral vorgeworfen.

Ich kenne diese Vorwürfe und weiß, dass sie in unzähligen Einzelfällen berechtigt sind. Westliches Regierungshandeln widerspricht leider immer wieder öffentlich propagierten Prinzipien. Aber daraus folgt doch nicht, dass wir die Menschenrechte einfach aufgeben sollten. Sie sind auch keine westliche Agenda, sondern wurden als universelle Prinzipien von den Vereinten Nationen verabschiedet. Trotz aller Defizite westlicher Staaten erkennen viele Menschen an, dass diese Länder ein hohes Maß an Rechtssicherheit bieten. Das schließt die Menschenrechte ein. Dass es Verbesserungsbedarf gibt, bedeutet bestimmt nicht, dass die Menschenrechte wertlos wären.

Links

3. Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit:
https://www.bmz.de/resource/blob/230742/dritter-religions-und-weltanschauungsfreiheitsbericht.pdf 
Auf Englisch (plus Kurzfassungen auf Englisch, Deutsch und Spanisch):
https://religionsfreiheit.bmz.de/religionsfreiheit-en/the-report 

Frank Schwabe ist der Beauftragte der Bundesregierung für die Religions- und Weltanschauungsfreiheit. 
https://www.bundestag.de/services/formular/contactform?mdbId=857980