Hochschulbildung
Unterschiede zwischen deutschen und indischen Universitäten
Ich bin in Ostindien in der Stadt Kolkata, früher Kalkutta, aufgewachsen. Im Westen ist die Stadt vor allem als armutsgeplagte Wirkstätte Mutter Teresas bekannt. In Indien gilt sie als kulturelle Hauptstadt.
Meinen Bachelorabschluss in Soziologie erwarb ich am renommierten Presidency College, den Masterabschluss im selben Fach an der University of Calcutta. Mit einem Stipendium des indischen Außenministeriums erwarb ich dort außerdem einen forschungsorientierten Masterabschluss in Foreign Policy Studies. Beide Hochschulen sind staatlich und stammen noch aus der Kolonialzeit.
2016 begann ich als Doktorandin in Politikwissenschaft am Zentrum für Entwicklungsforschung der ebenfalls staatlichen Universität Bonn. Der Deutsche Akademische Austauschdienst unterstützte mich mit einem Stipendium. Ich schrieb meine Dissertation über interne Gewaltkonflikte in Indien und untersuchte, wie der indische Staat über mehrere Jahrzehnte auf den Maoismus reagiert hat.
Auffällig ist, dass deutsche Universitäten besser ausgestattet sind. Die Bibliotheken bieten mehr Ressourcen, die Gebäude sind in einem besseren Zustand, und auf eine Lehrperson kommen weniger Studierende. Das liegt natürlich daran, dass Deutschland reicher ist. Deshalb ist ein Leistungsvergleich der beiden Systeme wenig sinnvoll. Ich teile hier meine persönliche Sichtweise und weiß, dass andere Menschen durchaus andere Erfahrungen machen können.
In einem Punkt sind indische Hochschulen überlegen. Ihr Lehrpersonal muss in anspruchsvolleren institutionellen Kontexten mit mehr Studierenden zurechtkommen. Ein großer Unterschied ist auch, dass Hochschulpolitik in Indien derzeit vor allem bedeutet, Demokratie und Menschenrechte gegen die rechtsnationale Regierung von Narendra Modi zu verteidigen. In Deutschland ist die Lage weitaus ruhiger.
Die Bedeutung von Theorien
Während meiner Studienzeit in Indien ging es in der sozialwissenschaftlichen Lehre weitgehend um die Vermittlung von Theorien. Sie zu verstehen ist sicher Voraussetzung für jede tiefgreifende Gesellschaftsanalyse. Allerdings beachtet man in Indien kaum, wie Theorien das aktuelle gesellschaftliche Leben erklären und zur Lösung von Problemen beitragen können, etwa zur Entwicklung und Umsetzung politischer Maßnahmen.
Während indische Studierende sich Theorien genau einprägen sollen, sollen deutsche sie auf neue Fragen anwenden und mit anderen Theorien vergleichen. Dieser Ansatz ist intellektuell spannender und führt zu tieferem Verständnis. Außerdem rüstet er die Studierenden für das spätere Berufsleben.
In Indien fehlt dieser praktische Ansatz. Deshalb entscheiden sich immer mehr Studierende für Medizin, Natur- und Ingenieurswissenschaften. Auch Handel und Betriebswirtschaft gelten als aussichtsreicher für den Arbeitsmarkt als Soziologie oder Politikwissenschaft.
Deutsche Universitäten fördern die Schreibkompetenz der Studierenden. In den Sozialwissenschaften muss man sich präzise ausdrücken können. An indischen Universitäten hat das keine Priorität. Leider schreiben Studierende dort oft amateurhaft und reizlos.
Der Blick über den Elfenbeinturm hinaus
Wenn die Sozialwissenschaften einen Einfluss auf die Gesellschaft haben sollen, müssen Hochschulen die Öffentlichkeit erreichen. Meiner Erfahrung nach sind sich deutsche Universitäten dessen eher bewusst. Es gibt jedoch einen Haken, besonders im Studium der Internationalen Beziehungen.
Deutschen Universitäten beharren meist auf der deutschen Sprache. Diese Gewohnheit führt eher zu provinziellen Ergebnissen. Zu wenige deutsche Wissenschaftler*innen beachten anderssprachige Veröffentlichungen, und deutschsprachige Publikationen ziehen keine große internationale Leserschaft an.
Es ist absurd, dass viele Doktorand*innen in Deutschland ihre Dissertationen immer noch auf Deutsch schreiben müssen, selbst wenn sie sich mit internationalen Themen befassen. Um in Südasien, Afrika oder Lateinamerika etwas zu bewirken, müssten sie auf Englisch, Französisch, Spanisch oder Portugiesisch schreiben. Dennoch sind an deutschen Universitäten eingereichte Schriften und Konzepte sehr oft nur deutschsprachig.
Das Zentrum für Entwicklungsforschung in Bonn erwartet von Studierenden, dass sie in einer Sprache schreiben, für die ihre Forschung relevant ist. Leider ist das nicht überall Norm.
Aber selbst in Bonn bemerkte ich manchmal Provinzialismus. Meine Forschung erforderte ein spezifisches Verständnis der sozioökonomischen und politischen Atmosphäre Indiens. Leider war dies am spezialisierten Zentrum der Universität nicht selbstverständlich. Meine Betreuer waren kaum in Indien gewesen und hatten den Großteil ihres Wissens aus Artikeln und Büchern.
Buchwissen reicht aber zum Beispiel zum Verständnis der indischen Waldregionen nicht aus. Dort wurde bisher kaum geforscht, und die lokalen Adivasi-Gemeinschaften haben ihre eigene Kultur. Letztendlich konnte ich nicht alle für mich wichtigen Forschungsergebnisse in der Doktorarbeit unterbringen. Daher schrieb ich ein weiteres Buch, das vom international renommierten Routledge-Verlag angenommen wurde.
Prüfungen, Noten und Zeugnisse
Die Prüfungsvorbereitung ist in Deutschland weniger stressig als in Indien. Indische Studierende versuchen, sehr viel auswendig zu lernen. In Deutschland hilft das nicht, denn hier wird nicht erwartet, Werke zu reproduzieren, sondern ihre Konzepte auf einen neuen Kontext anzuwenden.
In Indien sind Noten und Zeugnisse sehr wichtig. Gute Ergebnisse werden zu einem sozialen Spektakel, während mittelmäßige und schlechte Noten oft Nährboden für Depressionen und Frustrationen sind. Man nimmt an, dass öffentliche Exposition der Leistung zu besseren Ergebnissen führt, weil sie Exzellenz belohnt.
In Deutschland wird Exzellenz anders verstanden. Wichtiger, als mit Wissen zu protzen ist, ob jemand auf interessante Ideen kommt. Wo sich das zeigt – in Diskussionen, Präsentationen, Hausarbeiten oder Prüfungen – ist weniger wichtig. Generell achten deutsche Lehrende eher auf die Gesamtleistung der Studierenden.
Hierarchien gibt es in beiden Systemen. Wenige Professor*innen mögen Widerspruch. In Indien bedeutet das, dass Studierende wiederholen sollen, was die Dozent*innen sagen. In Deutschland sollen sie Ideen vorbringen, die mit dem Denken der Professor*innen übereinstimmen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ältere weiße, männliche Wissenschaftler die unkonventionellen Gedanken einer jungen und nicht weißen Frau nicht immer schätzen.
Private Grund- und Sekundarschulen
In beiden Ländern investieren die Regierungen auf allen Ebenen viel in Bildung. Universitäten genießen ein hohes Ansehen. Durch Korruption, Ineffizienz und schlechte Überwachung haben in Indien jedoch viele Menschen das Vertrauen in öffentliche Schulen verloren. Wenn Bürger die Wahl haben (das heißt, wenn sie Schulgeld zahlen können), ziehen sie meist private Schulen vor. Das Vertrauen in die öffentlichen Hochschulen ist größer. Junge Menschen wollen unbedingt aufgenommen werden, und wenn sie es schaffen, steigt ihr soziales Ansehen.
Das indische Bildungswesen kämpft zudem mit Sprachproblemen. Die staatlichen Schulen konzentrieren sich auf die Volkssprachen und Hindi. Englisch ist jedoch wichtiger – nicht nur im tertiären Bildungsbereich, sondern auch in der Wirtschaft, der öffentlichen Verwaltung, im Recht und in der Politik. Viele Eltern entscheiden sich daher für private Schulen mit englischer Unterrichtssprache. Ein Nebeneffekt ist, dass die städtischen Mittelschichten so ihre Bildungsvorteile aufrechterhalten.
Auch in Deutschland gibt es einige private internationale Schulen, die Privilegien verfestigen. Die meisten Eltern sehen deren Vorteile jedoch nicht als unverzichtbar für den zukünftigen Erfolg ihrer Kinder an.
Private Universitäten gibt es in beiden Ländern. Dennoch sind die Hochschulen mit dem größten Ansehen meist öffentlich.
Beide Nationen haben einen langen Weg vor sich, um die Vision von Rabindranath Tagore, dem ersten asiatischen Literaturnobelpreisträger, zu verwirklichen. In einem Gedicht beschrieb er eine Welt,„wo der Geist ohne Furcht ist, wo das Wissen frei ist“.
Literatur
Banerjee, S., 2022: The ‘good’ legitimacy; the ‘bad’ legitimacy. A study of conflict prolongation through the prism of state responses towards Maoism in India. Universität Bonn.
https://bonndoc.ulb.uni-bonn.de/xmlui/bitstream/handle/20.500.11811/9540/6507.pdf?sequence=1&isAllowed=y
Banerjee, S., 2023: Maoist and government welfare – Excluding legitimacy or legitimizing exclusion? London: Routledge.
Suparna Banerjee ist Politikwissenschaftlerin und lebt in Frankfurt am Main.
mail.suparnabanerjee@gmail.com