Wachsender Wohlstand

Ein Mittelschicht-Lifestyle beginnt bei täglich zehn Dollar

Erstmals in der Geschichte gehört mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung der Mittelschicht an und ist von den Fesseln der Armut befreit. Obwohl die Mittelschicht aufgrund der Corona-Pandemie zeitweilig langsamer gewachsen ist, erwartet Homi Kharas von der Brookings Institution in Washington, dass sie wieder wächst, sobald die Weltwirtschaft sich erholt hat. Warum, erklärt er im E+Z/D+C-Interview.
Mehr Menschen haben mehr Wahl: beim Shopping in Dhaka. picture-alliance/NurPhoto Mehr Menschen haben mehr Wahl: beim Shopping in Dhaka.

Was macht die Mittelschicht aus? Ist das vor allem eine wirtschaftliche Einordnung, oder geht die Definition darüber hinaus?
Wir müssen zwischen einer Definition und einem Maßstab unterscheiden. Die Mittelschicht wird als Gruppe von Menschen beschrieben, die, obwohl sie sehr unterschiedlich sind, doch gleiche Merkmale haben. Menschen der Mittelschicht teilen Werte wie harte Arbeit, Sparsamkeit und Leistung sowie persönliche Verantwortung. Sie sind weit genug entfernt von der Armutslinie, um ihre Zufriedenheit und ihre Zukunft zu verbessern. Anders als arme Menschen, bei denen es um das tägliche Überleben geht und die kaum Möglichkeiten haben, und anders als reiche Menschen, die meist kaufen können, was sie wollen, trifft die Mittelschicht ihre Entscheidungen auf wirtschaftlicher Basis. Es geht nicht nur um materiellen Konsum, sondern auch darum, das Leben zu genießen, um Freizeit, Kunst, Schönheit. Diese Definition ist recht locker, daher braucht es eine Art Maßstab, um darüber zu sprechen, wie sich diese Gruppe entwickelt hat. Am gängigsten ist es, die Ausgaben zu erfassen. Wir messen lieber die Höhe der Ausgaben als das Einkommen, denn diese spiegeln den Lebensstandard realistischer wider. Studenten etwa verdienen wenig oder kein Geld, trotzdem sind sie unabhängig, nicht arm, und sie können sich Geld leihen und es ausgeben. Ausgaben sind also ein deutlich besserer Maßstab für materiellen Wohlstand als Einkommen. Anfangs setzten wir zur Erhebung der Mittelschicht ein Ausgabenspektrum von 10 bis 100 Dollar pro Person und Tag an, wozu wir die Kaufkraftparitäten (KKP) des Jahres 2005 zugrunde legten. Später änderte sich das Maß auf 11 bis 110 Dollar pro Person und Tag unter Verwendung des KKP-Dollars des Jahres 2011, was angesichts der Kaufkraft aber dasselbe ist. Man möchte ein konstantes Maß, damit Ausgaben über Zeiten und Länder hinweg vergleichbar bleiben.

Wieso dieses spezifische Spektrum?
Die Idee ist es, am untersten Ende anzusetzen, dort, wo den Menschen etwas Geld übrig bleibt für weitere Ausgaben, ohne dass sie gleich in Armut verfallen. Am oberen Ende müssen sie nicht mehr viel über ihre Ausgaben nachdenken. Dieses Geldspektrum – oder seine Entsprechung in lokalen Währungen – hat einen historischen Ursprung. Es taucht an verschiedenen Punkten der Geschichte und an verschiedenen Orten der Welt auf. Die erste Mittelschicht waren Bankangestellte im viktorianischen England, die Fabrikbesitzern während der industriellen Revolution den Kauf von Maschinen erleichtern sollten. Sie verdienten das Äquivalent von rund 10 KKP-Dollar von 2005 pro Tag und Kopf. Als das Vereinigte Königreich erstmals eine Einkommensteuer erhob, wollte es nur Menschen mit Mittelschichts-Lebensstandard und höher besteuern. Sie setzten das Mindesteinkommen, bei dem die Steuer erhoben wurde, auf den Gegenwert von 10 Dollar pro Person und Tag in 2005-KKP-Dollar fest. Genauso berücksichtigten lateinamerikanische Politiker Einkommen und Ausgabenniveaus, ab denen eine Person eine gute Chance hatte, die kommenden drei Jahre nicht in Armut zu fallen – es zeigte sich, dass das bei 10 Dollar pro Person und Tag in 2005-KKP-Dollar liegt. Die Armutsgrenze in den USA liegt ebenfalls in diesem Bereich. Auch in Indien hat eine nationale Kommission ein Maß für die Mittelschicht festgelegt – es kam der Gegenwert von 10 Dollar pro Kopf und Tag heraus. Die Zahl am unteren Ende sagt: „Du giltst nicht als arm, wenn du mindestens so viel Geld zur Verfügung hast.“ Ein Spektrum zu haben erlaubt uns auch, geographische Vergleiche über die Zeiten hinweg anzustellen. Wir können die Entwicklung der Mittelschicht vom 19. Jahrhundert bis heute nachvollziehen.

Im 19. Jahrhundert haben die Menschen andere Dinge gekauft als heute, und zwischen den Ländern variieren Preise enorm. Wie gehen Statistiker mit diesen Unterschieden um, wenn sie Vergleiche anstellen?
Für materiellen Wohlstand benötigt man – unter Berücksichtigung der Währungsunterschiede – weiterhin gleich viel Geld. Natürlich variiert das, was im Einkaufskorb landet, von Land zu Land. Aber letztlich geben alle Menschen Geld für Nahrung, Kleider, Wohnen und Transport aus. Sobald sie zur Mittelschicht gehören, erwägen sie Ausgaben für Urlaub und Unterhaltung. Aber das, was Menschen grundlegend brauchen, ist gleich geblieben. Bezüglich der Preisunterschiede über die Länder hinweg: Es gibt globale Studien, die Preise von Waren und Dienstleistungen vergleichen. Das International Comparison Program trägt Preise für eine Auswahl essenzieller Güter und Dienstleistungen zusammen. Aus diesen Daten wird ein Index gebildet, der Vergleiche ermöglicht.

2017 sagten Sie voraus, bis 2022 würden jedes Jahr 170 Millionen Menschen in die Mittelschicht aufsteigen. Halten Sie das trotz Pandemie noch für realistisch?
Die Wachstumsrate der Mittelschicht hat sich zeitweilig verändert. Aber ich denke, nach einer kurzen Bremse durch Corona wird der Trend weitergehen und andauern. Der Zuwachs der Mittelschicht wurde um zwei bis drei Jahre zurückgeworfen. Dennoch gehört mehr als die Hälfte der Menschen weltweit mindestens zur Mittelschicht.

Laut Weltbank haben etwa 50 Prozent der Weltbevölkerung eine tägliche Pro-Kopf-Kaufkraft von 5,50 Dollar oder mehr, nicht von zehn Dollar oder mehr.                                            
Ja, aber deren Zahlen erfassen die Konsum­ausgaben pro Kopf nicht vollständig. Was Indien angeht, stützt sich die Weltbank beispielsweise auf Statistiken, die nur ein Drittel der Ausgaben laut volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung abdecken. Meine Schätzungsmethode ist besser, weil sie solche Lücken schließt. Wesentlich ist, dass 1820 nur ein Prozent der Weltbevölkerung zur Mittelschicht gehörte; jetzt 200 Jahre später tut das aber die Mehrheit. Das ist enorm und weitgehend dem technischen Fortschritt zu verdanken – und es geht rasant so weiter. Jahr für Jahr steigen hunderte Millionen in die Mittelschicht auf, vor allem in Asien – mit deutlichen Vorteilen für Bildung und Lebenserwartung. Sie arbeiten hart und können ihr Leben und das ihrer Familien verbessern. Durch Corona wird die Mittelschicht 2020 wohl etwas geschrumpft sein. Wir denken, dass voriges Jahr 120 Millionen wieder aus der Mittelschicht herausgerutscht sind und dass 170 Millionen weniger in die Mittelschicht aufgestiegen sind, als es ohne Corona der Fall gewesen wäre. Es liegt also an Corona, dass 2020 etwa 300 Millionen Menschen, die eigentlich aufgestiegen wären, nun nicht der Mittelschicht angehören. Dieser Effekt wird aber schnell verpuffen. 2021 oder 2022 wird die Mittelschicht hoffentlich wieder so wachsen wie zuvor.

Welche politische Bedeutung hat das globale Wachstum der Mittelschicht?
Allgemein will die Mittelschicht, dass die Regierung ihr dient. Sie strebt nach Unabhängigkeit, nach Privatbesitz, maximiert persönliche Chancen und spart für die Zukunft. Die Mittelschicht favorisiert eine Regierung, die sich um Gesundheit und Bildung kümmert. Sie wünscht sich wirtschaftliche Sicherheit und drängt daher auf soziale Absicherungen wie Renten und Arbeitsrechte. Die Mittelschicht setzt sich für Frauenrechte ein; die ersten Suffragetten kamen aus der Mittelschicht. Außerdem präferiert sie Freihandel, da er dem Konsumenten mehr Auswahl ermöglicht. Der erste politische Sieg der Mittelschicht war die Aufhebung der Mais-Gesetze im England des 19. Jahrhunderts. Diese Gesetze verhängten Zölle auf importiertes Getreide. Das hielt die Preise hoch und begünstigte Grundbesitzer auf Kosten der Verbraucher. Die Mittelschicht kämpfte hart dafür, dass diese Gesetze aufgehoben wurden.

Welche Unterschiede zeigen sich innerhalb der Mittelschicht?
Derzeit zersplittert die Mittelschicht etwas. Die Pandemie hat die Kluft zwischen dem Teil der Mittelschicht verdeutlicht, der studiert hat und zu Hause arbeiten kann, und den Arbeitern, die nicht zu Hause bleiben können. Die Interessen beider Seiten beginnen auseinanderzudriften. Sie haben natürlich unterschiedliche Erfahrungen gemacht. In den USA etwa zeigten sich bei den Arbeitern mehr Alkohol- und Drogenabhängigkeiten sowie Selbstmorde, sogenannte Tode aus Verzweiflung. In dieser kleinen Gruppe haben Erkrankungen und körperlicher Schmerz zugenommen, die psychische Gesundheit ist schlechter, die Lebenserwartung niedriger.

Stellt dies nicht den Begriff Mittelschicht als Beschreibung für alle, die unterschiedlich viel Geld zur Verfügung haben, in Frage?
Es kann sein, dass Studierte andere Interessen haben als diejenigen ohne Studium. Manche fordern daher, das Bildungsniveau solle der Maßstab zur Erhebung der Mittelschicht werden. Ich bevorzuge, die breitere Definition beizubehalten, aber einen neuen Weg zu finden, um die Lebensstile der verschiedenen Mittelschichtsegmente zu beschreiben. Vielleicht waren die abweichenden Erfahrungen temporär. Womöglich haben manche Menschen jetzt mehr Chancen in der digitalen Wirtschaft als andere, aber in 10 oder 15 Jahren haben alle diese Möglichkeiten. Das ist ein technologisches Phänomen. Neue Technologien dienen oft zunächst Einzelnen, ehe die ganze Gesellschaft davon profitiert. Als die Elektrizität eingeführt wurde, war das erst mal nur etwas für die Reichen – heute gehört sie zum Lebensstil der Mittelschicht.

Die Mittelschicht wächst in armen Ländern schneller als in reichen. Sorgt diese Ungleichheit für Unmut in der Mittelschicht in Industrieländern?
Es gibt eine gewisse Sättigung der Mittelschicht in entwickelten Ländern, was erklärt, warum diese dort langsamer wächst als in Ländern mit niedrigem Einkommen. Wächst die Mittelschicht an einem Ort, bringt das historisch auch der Mittelschicht andernorts neue Möglichkeiten. Der Marshall-Plan half der europäischen Mittelschicht, aber auch der in den USA. Von wachsenden Märkten profitieren alle. Das ist – im Gegensatz zur Politik – einer der großartigen Merkmale der Wirtschaft. In der Wirtschaft gilt: Wenn dein Nachbar gut dran ist, bist auch du gut dran. In der Politik hingegen kann es sein, dass es deinem Nachbarn gut geht, dir aber nicht. Die Politik ist im Gegensatz zur Wirtschaft mehr ein Nullsummenspiel. Die Hoffnung ist, dass das auch erkannt wird. Wenn du etwa in einem entwickelten Land lebst und dein Rentenfonds Anteile an Apple hält, profitierst du als indirekter Shareholder, wenn sich Apple-Produkte in China und Indien gut verkaufen. All die großen Marken sind groß, weil sie an Milliarden von Menschen in der globalen Mittelschicht verkaufen. Ich könnte problemlos darlegen, dass ein Großteil der Expansion im Wohnbereich, höherer Bildung, Finanzen, Versicherungen und in vielen anderen Dienstleistungen in der reichen Welt mit der Fähigkeit verbunden sind, auf dem Wohlstand aufzubauen, der durch den Handel mit Entwicklungsländern entstanden ist. Natürlich gibt es bei Handel und technologischer Entwicklung Übergangskosten. Es ist schwer zu sagen, wie lang der Übergang dauert und wie sich die Politik entwickelt. Das verweist auf den zentralen Punkt, dass es in einer sich schnell verändernden Welt überlebenswichtig ist, das Augenmerk auf Übergangskosten zu richten – und dazu zählt auch die Anpassung an neue Technologien.


Homi Kharas ist stellvertretender Direktor des Global Economy and Development Program der Brookings Institution in Washington, D. C.
hkharas@brookings.edu

Aktualisierung 30. Juni 11:35 MESZ: Die Frage zur Diskrepanz der Mittelschichten-Schätzung von Weltbank und Brookings Institution stellten wir gestern, mehrere Tage nach der Erstveröffentlichung des Interviews, und Homi Kharas hat sie umgehend beantwortet. 

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