Arabischer Frühling

Tunesiens demokratische Ordnung ist in Gefahr

Tunesiens junge Demokratie ist in Gefahr. Ihr Ende wäre für Libyen und den gesamten arabischen Raum ein schlechtes Omen.
Ob Präsident Kais Saied Tunesiens Demokratie mit undemokratischen Mitteln retten kann oder beenden wird, bleibt abzuwarten. Tunisian Presidential Image/picture-alliance/AA Ob Präsident Kais Saied Tunesiens Demokratie mit undemokratischen Mitteln retten kann oder beenden wird, bleibt abzuwarten.

Am 25. Juli 2021 entließ Tunesiens Präsident Kais Saied den parteilosen Premierminister Hichem Mechichi und suspendierte das Parlament für 30 Tage. Zudem versprach er, als Generalstaatsanwalt persönlich in Korruptionsfällen zu ermitteln. Manche Tunesier befürchten, das sei das Ende der jungen Demokratie. Die moderat-islamistische Partei Ennahda spricht von einem Coup.

Im Land herrscht seit Langem große Unzufriedenheit. Große Proteste fanden statt, kurz bevor der Präsident seine Entscheidungen im Fernsehen bekannt gab. Es ist unklar, ob diese orchestriert oder spontan waren. Jedenfalls reagierten viele Tunesier mit Freude.

Laut Mabrouka Khedir von der Zeitung „Assabah News“ ist die Bevölkerung von Jahren wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Krisen tief enttäuscht. Der politischen Elite werde Korruption, Machtmissbrauch und Desinteresse am Leben der Menschen vorgeworfen. Dem Medienexperten Ahmed Kadri zufolge brachte Covid-19 das Fass zum Überlaufen. Die Pandemie hat das Land schwer getroffen. In diesem Szenario habe Saied Notstandsrechte ergreifen müssen, sagt Emad Al Alam von der libyschen Zeitung „Al-Akhbaria“.

Wenn der Präsident die Probleme des Landes nicht in den Griff bekommt, kann er die aktuell breite Unterstützung schnell verlieren. Saied hat bereits angedeutet, er werde den Notstand eventuell verlängern. Die „Voice of America“ fragt, ob er Tunesiens Demokratie tatsächlich mit undemokratischen Mitteln retten kann.

Die Journalistin Bahija Belmabrouk findet die Verhaftung kritischer Blogger besorgniserregend. Ihnen wird vorgeworfen, sich inakzeptabel über Armee und Staatsoberhaupt geäußert zu haben.

Internationale Beobachter sehen Parallelen zur Machtergreifung von Ägyptens Präsidenten Abel Fattah al-Sisi 2013. Zwei Jahre nach dem Arabischen Frühling wuchs die Unzufriedenheit der Ägypter mit dem gewählten Präsidenten Mohammed Mursi von den Muslimbrüdern, was in Großkundgebungen zum Ausdruck kam. Seitdem regiert al-Sisi mit eiserner Faust. Wahlen, die weder frei noch fair waren, machten ihn zum Präsidenten.

Der Arabische Frühling hatte in Tunesien begonnen. Seit zehn Jahren herrscht Demokratie. Jedoch bekamen ständig wechselnde Regierungen Missstände wie Armut und Arbeitslosigkeit nicht in den Griff. Die Partei Ennahda ist Tunesiens Version der Muslimbrüder, und sie war an vielen Regierungskoalitionen beteiligt. Ihr Vorsitzender Rachid al-Ghannouchi nennt sie eine Organisation von „Muslimdemokraten“. Er hat sich als deutlich weniger dogmatisch als Mursi erwiesen. Dennoch gelten seine und andere Parteien vielen Tunesiern heute als korrupt und weltfremd.

Präsident Saied hat dagegen den Ruf der Integrität. Er ist Jurist, und seine Unterstützer erwarten, dass er die demokratische Grundordnung effizienter macht, ohne ihre Substanzen zu beeinträchtigen. Leider lehrt die Geschichte, dass, wer eigenmächtig die Macht ergreift, selten wieder von ihr lässt.

Die Bürger im Nachbarstaat Libyen beobachten die Entwicklungen in Tunesien aufmerksam, auch wenn sie nicht mit unmittelbaren Auswirkungen auf ihr eigenes Land rechnen. Historisch sind die beiden Nationen sehr verschiedenen, auch wenn sie bis 2011 Autokratien waren. Tunesische Institutionen waren immer stärker. Der libysche Journalist Mahmoud Shaman sagt, in Tunesien gebe es, seit Habib Bourguiba das Land 1956 in die Unabhängigkeit von Frankreich führte, liberale Tendenzen. Zivilgesellschaftliche Organisationen – besonders Gewerkschaften – sind tiefer verwurzelt als in Libyen.

Entsprechend verliefen die Revolutionen von 2011 unterschiedlich. Die Tunesier konnten eine demokratische Grundordnung einführen, während Libyen zu einem gescheiterten Staat wurde und unter Ausbrüchen politischer Gewalt leidet. Indes sind die Menschen in beiden Ländern von Europa tief enttäuscht. Wir alle hatten beim Übergang zur Demokratie mehr Unterstützung erwartet. Nichtsdestotrotz wäre es ein schlechtes Omen für Tunesien und den gesamten arabischen Raum, wenn die einzige Demokratie der Region wieder zur Diktatur würde.


Moutaz Ali arbeitet als Journalist in der libyschen Hauptstadt Tripolis.
ali.moutaz77@gmail.com