Pflege und Betreuung

Neuer Generationenvertrag nötig

Die Einschränkungen durch die Covid-19-Pandemie haben weite Teile des Pflege- und Betreuungssystems in Deutschland zum Erliegen gebracht und deutlich gezeigt, wie abhängig es von der privaten Care-Arbeit insgesamt und von Frauen aus dem Ausland ist. Es braucht eine Reform des Systems mit finanzieller und ideeller Anerkennung der Sorgearbeit.
Mexiko braucht sein Pflegepersonal selbst – Rot-Kreuz-Mitarbeiterin bei der Beerdigung eines an Covid-19 verstorbenen Kollegen. David Peinado/picture-alliance/NurPhoto Mexiko braucht sein Pflegepersonal selbst – Rot-Kreuz-Mitarbeiterin bei der Beerdigung eines an Covid-19 verstorbenen Kollegen.

Das Care-System in Deutschland ist darauf ausgelegt, dass die Aufgaben überwiegend von den betroffenen Familien übernommen werden, und fördert durch seine Gesetzgebung die traditionelle Rollenverteilung. Immer mehr Frauen können und wollen die Betreuung und Pflege ihrer Kinder und Angehörigen aber nicht mehr übernehmen, weil sie selbst berufstätig sind. Deshalb müssen Familien diese Aufgaben auslagern, entweder institutionell in Kitas, Schulen oder Pflegeheime, aber auch privat an Haushaltshilfen, Au-pairs oder 24-Stunden-Inhouse-Pflegekräfte. Zunehmend übernehmen dabei Frauen mit Migrationshintergrund diese Aufgaben. Grenzschließungen während Corona-Lockdowns haben indessen gezeigt, dass weder die Versorgung durch Zugereiste wirklich sicher gewährleistet werden noch teilweise extreme Härten für diese Menschen selbst verhindert werden können.

Die Betreuungskonstrukte stoßen also an ihre Grenzen. Die Pflegepolitik hat sich bislang nicht am gesellschaftlichen Bedarf ausgerichtet und sich nie konsequent für eine Höherqualifizierung und ein flächendeckendes Netzwerk professioneller Pflegeangebote eingesetzt. Dass diese Strategie langfristig nicht aufgeht, zeigt, dass der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn persönlich den anhaltenden Fachkräftemangel in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen zu beheben versucht, indem er in Mexiko oder den Philippinen gut ausgebildete Pflegekräfte abwerben möchte.

Die Folge ist, dass wiederum Frauen, meist mit eigener Migrationsgeschichte, oft nur befristet im Land, mit unklarem Aufenthaltsstatus und unter (arbeits-)rechtlich zumindest fragwürdigen Bedingungen, das System hier am Laufen halten sollen und damit die Illusion einer Vereinbarkeit von Familie und Karriere. In beiden Fällen wird ein Wohlstands- und Lohngefälle ausgenutzt, Unternehmen und Staat versuchen, sich günstig freizukaufen von den eigenen Sorgeverpflichtungen, die Verantwortung wird an Subunternehmen und Frauen und Familien in anderen Ländern weitergereicht. Doch die leiden aufgrund des Verlusts ausgebildeter Fachkräfte unter den wirtschaftlichen und humanitären Folgen.

Care-Arbeit wird dort abgezogen wie andernorts Rohstoffe. Am Ende dieser sogenannten globalen Sorgeketten sind es die Kinder, die pflegebedürftigen Angehörigen oder Menschen mit Behinderung überwiegend in den Ländern des globalen Südens, die nicht mehr versorgt werden (siehe Richa Arora in der Debatte des E+Z/D+C e-Paper 2020/06). Deshalb muss sich die Bundesregierung auch in der Entwicklungszusammenarbeit für eine Vereinheitlichung der sozialen Absicherung von privater Care-Arbeit, sei es Kindererziehung, Betreuung oder Pflege, einsetzen. Sie ist gleichermaßen in der Alterssicherung anzuerkennen. Zielführend wäre die Einrichtung eines globalen Fonds für soziale Sicherheit, um (auch) in armen Ländern Renten, Kindergeld und Arbeitslosenunterstützung zu verbessern.

Die Care-Krise lässt sich weder lösen, indem man sie exportiert, noch, indem man sie als privates Problem ins Unsichtbare schiebt. Stattdessen braucht es einen neuen Generationenvertrag, der eine wirkliche Vereinbarkeit von Erwerbs- und Sorgearbeit ermöglicht, und zwar für alle Geschlechter gleichermaßen, für Arm und Reich, zugezogen und alteingesessen. Und wir brauchen ein System der finanziellen und ideellen Anerkennung von Care-Arbeit, das Menschen für ihre Sorgearbeit wertschätzt und nicht abstraft.

Ein erster Schritt wäre es, sie überhaupt einmal in die Berechnungen des Bruttoinlandsprodukts mit aufzunehmen. Denn dies ist der Maßstab für gesellschaftlichen Wohlstand, den wir ohne Care-Arbeit gar nicht hätten. Bisher ist aber an keiner Stelle transparent abgebildet, wer einseitig profitiert und wer die Lasten ohne Ausgleich trägt, welche Tätigkeit „systemrelevant“ ist, gerade auch in einer globalen Perspektive. Denn die ungleiche Verteilung der zeitlichen und mentalen Belastungen durch Care-Arbeit ist eines der größten Hemmnisse nicht nur für die individuelle, berufliche Entwicklung von jungen Frauen weltweit, sondern auch für die Entwicklung von Ländern des globalen Südens insgesamt. Solange der universelle Zugang zu gebührenfreier öffentlicher Bildung, Gesundheitsversorgung, der Zugang zu Wasser, sanitären Einrichtungen und häuslichen Energiesystemen nicht weltweit sichergestellt ist, wird jede zukünftige, mit der Covid-19-Pandemie vergleichbare Krise die bestehenden sozialen Ungleichheiten immer noch weiter verschärfen.


Sascha Verlan und Almut Schnerring haben gemeinsam das Buch „Equal Care. Über Fürsorge und Gesellschaft“ geschrieben (Berlin, 2020, Verbrecher Verlag) und den Aktiontag „Equal Care Day“ ins Leben gerufen.
kontakt@wu2k.de

Link
Equal Care Manifest:
https://equalcareday.de/manifest/