Massenelend
Indiens katastrophale zweite Corona-Welle
Corona prägte den April mit Massenleid und -sterben sowie dramatischem Mangel an Krankenhausbetten, Medikamenten und Sauerstoffflaschen. Die zweite Welle ist viel schlimmer als die erste.
Noch zu Beginn des Jahres schlossen Krankenhäuser ihre Covid-19-Sondereinrichtungen. Amtliche Stellen sprachen von bestehender Herdenimmunität. Premierminister Narendra Modi pries Indien als Inspiration für die Welt. 2020 starben nur etwa 150 000 Menschen in Indien an Covid-19. Tuberkulose fordert jährlich dreimal so viel Tote.
Jetzt sehen die Dinge anders aus. Mehr als 400 000 neue Corona-Erkrankungen und 4 000 Todesfälle pro Tag wurden am 1. Mai gemeldet. Die Dunkelziffer liegt laut Experten aber viel höher. Viele Fälle werden in den offiziellen Statistiken nicht abgebildet. Laut amtlichen Mittelungen gab es im Bundesstaat Gujarat am 16. April 78 Todesfälle, aber Reporter zählten am selben Tag 689 Feuerbestattungen und Beerdigungen. Die Zeitungen berichten ständig über solche Diskrepanzen.
Das Virus verschont niemanden, auch keine Kinder. Innerhalb weniger Tage oder sogar Stunden verlieren Familien gleich mehrere Mitglieder. Die Friedhöfe sind überfüllt, und die Krematorien halten mit der Nachfrage nicht mit. Öffentliche Parks werden zu Einäscherungsorten, und manchmal treiben Leichen in Flüssen.
Während das Coronavirus 2020 vor allem Städte heimsuchte, wütet es nun auch in Dörfern. Die Gesundheitsversorgung des ländlichen Raums ist schwach, und offizielle Statistiken bilden die Realität nicht ab. Bekannt ist, dass viele Menschen an typischen Covid-19-Symptomen leiden und häufig nicht überleben. Medizinische Diagnosen bleiben aber rar.
In Tilampur, einem Dorf im Bundesstaat Uttar Pradesh, soll pro Haushalt mindestens ein Mensch Fieber und Husten haben. Die Bevölkerung spricht von „mysteriösen Todesfällen“.
Die Ursachen der zweiten Welle sind unklar. Virusvarianten können relevant sein. Eine Genomanalyse hat in einigen Landesteilen eine indische „Doppelmutante“ nachgewiesen, welche die Weltgesundheitsorganisation als besorgniserregend eingestuft hat. Diese Mutante lässt sich allerdings nicht in Delhi nachweisen, wo die Situation ebenfalls schlimm ist.
Die Bundesregierung wird kritisiert, weil sie in den vergangenen Wochen keine Abstands- und Hygieneregeln verordnete. Sie veranstaltete sogar Massenversammlungen im Rahmen regionaler Wahlkämpfe, in denen dann allerdings Modi’s hinduchauvinistische BJP schlechter abschnitt als erwartet. Auch die Kumbh Mela, ein hinduistisches Fest mit hunderttausenden von Gläubigen, durfte stattfinden.
Die Bestseller-Autorin Arundhati Roy forderte Modis Rücktritt, weil er nichts tat, um die Katastrophe zu verhindern. Die Bundesregierung bemüht sich derweil um ein gutes Image und stellt sich als mitfühlend, fleißig und entschlossen dar. Sie wies Social-Media-Plattformen an, Inhalte zu blockieren, die coronabedingtes Leid zeigen. In einem BJP-regierten Staat warf die Polizei sogar einem Mann Angstmache vor und erstattete Anzeige, weil er mit Tweets eine Sauerstoffflasche für seinen kranken Vater suchte.
Die Justiz fällt auf diese Propaganda nicht herein. Gerichte versuchen, staatliche Stellen zur Übernahme ihrer Verantwortung in der Pandemie zu zwingen. Der Supreme Court berief sogar eine Kommission, die Vorschläge für eine bessere Pandemiepolitik formulieren soll.
Das stolze Schwellenland Indien benennte seit der Unabhängigkeit das Ziel der „Self-reliance“ (autarke Eigenständigkeit). Nun ist es erstmals seit dem Tsunami von 2004 wieder auf umfangreiche internationale Hilfen angewiesen. Über 40 Staaten haben medizinische Unterstützung zugesagt, und die ersten Hilfsgüter sind bereits eingetroffen – unter anderem aus den USA und Deutschland. Die Verteilung dieser Güter begann jedoch erst, als Journalisten kritische Fragen stellten.
Experten warnen bereits vor einer dritten Corona-Welle. Als Anfang Mai erst 1,7 Prozent der Bevölkerung geimpft waren, gingen dem größten Pharmaproduzenten die Impfdosen aus. Laut einer kürzlich durchgeführten Umfrage fühlen sich 61 Prozent der Inder „wütend, verärgert, depressiv oder besorgt“.
Roli Mahajan ist freie Journalistin und lebt in Lucknow.
roli.mahajan@gmail.com