Gesundheitspolitik

Geistiges Eigentum: Viele Regierungen agieren halbherzig

Im Oktober 2020 haben Südafrika und Indien vorgeschlagen, befristet während der Corona-Pandemie alle geistigen Eigentumsrechte für relevante medizinische Produkte auszusetzen. Die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) schützen diese Rechte, sehen aber auch Flexibilität für das Gesundheitswesen vor. Achal Prabhala, ein zivilgesellschaftlicher Pharmaexperte aus Bangalore, erklärt im Interview, weshalb die Debatte über den indisch-südafrikanischen Vorschlag nur langsam Fahrt aufnahm – und was geschehen muss, um die Impfstoffproduktion rasch zu steigern.
„Die USA haben Impfstoffe gehortet, anstatt anderen Ländern bei Impfkampagnen zu helfen“: Joe Biden wurde vor Amtsantritt schon Ende Dezember geimpft. Msnbc/picture-alliance/ZUMAPRESS „Die USA haben Impfstoffe gehortet, anstatt anderen Ländern bei Impfkampagnen zu helfen“: Joe Biden wurde vor Amtsantritt schon Ende Dezember geimpft.

Bremst geistiges Eigentum (intellectual property – IP) die Impfstoffproduktion?
Eindeutig ja, denn das Recht besagt, dass nur Patentinhaber die Impfstoffe, die bislang zur Verfügung stehen, herstellen dürfen. Also ist geistiges Eigentum wichtig. Selbstverständlich ist mehr als die rechtliche Erlaubnis für die Produktion nötig. Gebraucht werden auch die technischen Kenntnisse, also sozusagen eine Art Gebrauchsanweisung, die erläutert, wie das Patent genutzt wird. Ohne dieses Wissen ist das Patent wertlos. Folglich schützt ein doppeltes Monopol pharmazeutische Innovationen: das rechtliche Monopol und das technologische Monopol.

Wer ein Patent anmeldet, muss jedoch genau erklären, was erfunden wurde – und auf der Basis können kompetente Wissenschaftler und Ingenieure doch leicht herausfinden, wie sie das Patent anwenden können. Eine funktionierende Erfindung nachzubauen ist leichter, als etwas ganz neu zu erfinden.
Das stimmt und Reverse-Engineering dürfte normalerweise vier bis fünf Monate dauern. Danach wäre dann aber auch viel Zeit für klinische Tests nötig. Wenn die Produktionspraxis des Patentinhabers übernommen wird, sind die Regulierungsbehörden mit viel weniger Prüfungen bereit, das Mittel zuzulassen.

Südafrika und Indien haben schon im Oktober vorgeschlagen, in Reaktion auf die Pandemie IP-Rechte auszusetzen. Es hat mehr als sechs Monate gedauert, bis die globale Diskussion darüber wirklich Fahrt aufnahm. Südafrika und Indien hätten schneller deutlich mehr erreichen können, wenn sie öffentlich Druck gemacht hätten. Sie haben aber weder die Medien noch zivilgesellschaftliche Organisationen involviert, sondern nur formale, diplomatische Wege genutzt. Wirkt das nicht halbherzig?
In der Tat, und der Hintergrund ist, dass die Spitzenpolitiker sich nicht wirklich für die Initiative interessiert haben. Sie wurde von Diplomaten ergriffen. Die Idee hatte ein Mitglied der südafrikanischen Delegation bei der WTO in Genf. Mustaqeem de Gama überzeugte Kollegen im eigenen Team sowie in der indischen Delegation. Die Regierungen beider Länder verdienen Lob dafür, dass sie ihre Diplomaten handeln ließen, aber das war's eigentlich schon. Dann haben zivilgesellschaftliche Akteure sich für die IP-Aussetzung engagiert. Ich stimme Ihnen zu: Hätten Präsident Cyril Ramaphosa und Premierminister Narendra Modi vor der Presse klar Position bezogen, wäre alles schneller ins Rollen gekommen.

Sie hätten noch mehr tun können, als Pressekonferenzen geben. Sie hätten Zwangslizenzen für die generische Produktion patentgeschützter, Covid-19-relevanter Pharmazeutika ankündigen können. Die WTO Regeln erlauben jedem Land diese Art von Flexibilität in Bezug auf IP, wenn das für die Gesundheitsversorgung nötig ist. Warum haben sie das nicht getan?
Dafür gibt es mehrere Gründe:

  • Die Flexibilitätsregeln wurden vor 20 Jahren beim WTO-Gipfel in Doha beschlossen. Es blieb aber weitgehend bei schöner juristischer Rhetorik. Mechanismen, um die Regeln anzuwenden, wurden nicht geschaffen.
  • Die USA und die EU, die dominanten Akteure in der Handelspolitik, haben die Flexibilitätsregeln nämlich nie wirklich akzeptiert und allen Partnern klargemacht, dass sie nicht angewendet werden sollen. Sie arbeiteten dabei mit unterschiedlichen Mitteln – vom einfachen Ausdruck der Enttäuschung über die Verlangsamung internationale Prozesse bis hin zur Drohung, diverse Unterstützungsleistungen einzustellen.
  • Folglich achteten selbst die Regierungen großer Schwellenländer wie Indien, Südafrika und Brasilien sehr darauf, westliche Mächte nicht herauszufordern. Gelegentlich treten sie selbstbewusst auf, aber meist blieben sie zögerlich. Im Gegensatz zu ihnen können es sich die Regierungen kleiner, geringstentwickelter Länder gewiss nicht erlauben, auf IP-Flexibilität für ihr Gesundheitswesen zu beharren.
  • Wichtig ist aber sicherlich auch, dass Impfstoffe komplexe Produkte sind, für die meist nicht nur ein einziges Patent, sondern mehrere gelten. Entsprechend schwierig ist die Erteilung von Zwangslizenzen.

Besonders attraktiv an der vorgeschlagenen pauschalen IP-Suspendierung ist jedoch, dass sie es jeder Regierung ermöglichen würde, in der aktuellen Krise ohne Angst vor Folgen zu agieren. IP-Rechte gelten für viele medizinische Produkte – nicht nur Impfstoffe, sondern auch für Medikamente und sogar Schutzkleidung. In der aktuellen Lage sollten Regierungen in den geringstentwickelten Ländern gar nicht über IP nachdenken, sondern alles tun, um ihre Bevölkerung zu schützen.

Als sich die US-Regierung Ende April für die Aussetzung der IP-Rechte aussprach, kam Schwung in die internationale Debatte. War das der Wendepunkt?
Meine Antwort ist „zwar, aber“. Positiv ist einerseits, dass Präsident Joe Biden öffentlich eingeräumt hat, dass Patente Probleme schaffen, aber nicht zur Problemlösung beitragen. Andererseits agiert auch seine Regierung halbherzig. Ihre Äußerungen gefallen zivilgesellschaftlichen Akteuren und klingen auf der internationalen Bühne großzügig. Sie lenken aber davon ab, dass die USA Impfstoffe zu Hause gehortet haben, anstatt anderen Ländern bei Impfkampagnen zu helfen. Zudem sind die USA nur für die Aussetzung von Patenten von Vakzinen, nicht von anderen medizinischen Gütern. Wichtig ist ferner, dass das, was Washington und die WTO jetzt sagen, letztlich auf folgende Botschaft hinauslaufen: lasst uns zusammenarbeiten, damit wir im Dezember neue IP-Regeln für Impfstoffe beschließen können. Es ist keine Dringlichkeit zu spüren, obwohl wir in einer verheerenden Pandemie leben. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Das Coronavirus tötet derzeit weltweit täglich 15 000 Menschen.

Was sollte Biden tun?
Er könnte darauf drängen, den Entscheidungsprozess in der WTO zu beschleunigen, und zudem sicherstellen, dass seine EU-Verbündeten – und besonders Deutschland – mitmachen. Er könnte auch dafür sorgen, dass die beiden Impfstoffhersteller in den USA auf ihren Patentschutz verzichten und Partnern in fernen Ländern ihre Technologie zur Verfügung stellen. Zwei amerikanische Konzerne besitzen die Rechte an Vakzinen, die uns in Entwicklungsländern sehr helfen könnten. Das von Johnson & Johnson erfordert nur eine einmalige Impfung. Und das von Moderna ist interessant, weil es auf mRNA-Technik beruht. Dafür sind keine biologischen Komponenten nötig, deren Kultivierung Zeit erfordert. Es geht um ein chemisches Verfahren, sodass die Produktion schneller gesteigert werden kann. Mir geht es darum, dass die internationale Staatengemeinschaft die Impfstoffversorgung so schnell wie möglich hochschrauben muss. Wenn Biden das will, kann er es bewirken. Er hat die moralische Pflicht, das zu tun.

Deutsche Regierungspolitiker sagen, sie seien bereit, über die Patentaussetzung zu sprechen, bestehen aber auch darauf, IP-Recht verursache nicht die entscheidenden Engpässe, sorge aber für Innovationen.
Wir sollten die Dinge im richtigen Zusammenhang betrachten. Die Pharma-Unternehmen haben von massiven Subventionen für Forschung der Entwicklung profitiert. Außerdem sind die Vorbestellungen der Impfstoffe Milliarden Dollar wert. Das sind die Anreize, die für die betroffenen Unternehmen wichtig sind. Sie wissen, dass sie sehr viel Geld einnehmen werden. Obendrein geht es um eine temporäre Aussetzung der IP-Rechte während der Pandemie und nicht um ihre Abschaffung. Patente mögen zwar derzeit weder das einzige noch das größte Hindernis sein, es lässt sich aber wirklich nicht behaupten, dass das Beharren auf ihnen die Vakzin-Herstellung und -Forschung irgendwie beschleunigen kann.

Sind Patente als Fortschrittsmotoren nicht ohnehin überbewertet?
Ja, das sind sie. In Entwicklungsländern bremsen IP-Rechte aus zwei Gründen das Gesundheitswesen:

  • Erstens machen sie manche medizinisch wichtigen Dinge unerschwinglich.
  • Zweitens stimuliert das IP-System nicht die Forschung zu Gesundheitsproblemen, die Länder mit niedrigen Einkommen und geringer Kaufkraft plagen.

Seit langem singen westliche Politiker immer wieder das Lied vom hohen Nutzen des IP-Schutzes für das Gesundheitswesen. Das dient den Interessen mächtiger multinationaler Konzerne, trifft aber auf Entwicklungsländer gar nicht zu. Bemerkenswerterweise rücken selbst Spitzenpolitiker in der EU allmählich davon ab – zum Beispiel der französische Präsident Emmanuel Macron und der spanische Premierminister Pedro Sánchez.

Wie steht es um Russland und China? In beiden Ländern wurden Covid-19-Vakzine entwickelt.
Russland und China halten bislang still, soweit ich weiß. Es ist jedenfalls gut, dass wirksame Mittel nicht nur aus westlichen Ländern kommen, denn es zeigt, dass die Menschheit nicht komplett von deren technologischen Leistungen abhängt.

Ich finde, die Spitzenpolitiker von Entwicklungsländern und Schwellenländern haben versagt, weil sie den diplomatischen Erfolg von Doha 2001 nicht genutzt haben. Die Flexibilitätsregeln sollten doch dafür sorgen, dass Patentrechte die Gesundheitsversorgung nicht behindern. Wenn sie ihr Vorgehen untereinander abgestimmt hätten, hätten sie für das Entstehen von Implementationsmechanismen sorgen können. Das hätte mehr gebracht als nur „schöne juristische Rhetorik“, wie Sie das gerade formulierten. Regionalorganisationen wie die Afrikanische Union hätten auch dazu beitragen können. Sehen Sie das auch so?
Ja, in der Tat. Ich würde aber ergänzen, dass einige Länder handeln. Chile hat beispielsweise früh in der Pandemie die Absicht bekundet, Covid-19-relevante IP auf der nationalen Ebene auszusetzen. In Brasilien arbeitet der Gesetzgeber an ähnlichen Maßnahmen. In diesem Sinne wird die WTO-Flexibilität durchaus angewendet, was aber nicht viel internationale Aufmerksamkeit erregt. Es ist aber trotzdem wahr, dass die Art von radikalem und entschlossem Handeln ausbleibt, mit dem Entwicklungsländer ihre Gesundheitswesen stärken könnten. Anstatt selbst Verantwortung zu übernehmen, geben unsere Regierungsspitzen oft lieber den reichen Nationen die Schuld für unsere Probleme. Zweifellos haben die reichen Länder in multilateralen Zusammenhängen Vorteile, aber die ärmeren haben auch Stimmen. Die USA und die EU sprechen ihre Politik geschickt zur Verteidigung gemeinsamer Interessen ab. Das sollten Regierungen in Afrika, Asien und Lateinamerika auch tun. Angesichts von Covid-19 brauchen wir entschlossene Führung, nicht halbherzige Diplomatie.


Achal Prabhala lebt in Bangalore und koordiniert AccessIBSA, eine zivilgesellschaftliche, tri-kontinentale Initiative, die sich für besseren Zugang zu Pharmazeutika in Indien, Brasilien und Südafrika einsetzt. Sie wird von der Shuttleworth Foundation unterstützt.
https://accessibsa.org/team/achal-prabhala/