Entwicklung und
Zusammenarbeit

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Brasilien

Neues Konzept nötig

Brasilien blickt auf zwei gute Jahrzehnte zurück. Umsichtige Sozialpolitik ließ viele Menschen am Wachstum, das auf Rohstoffexporten basierte, teilhaben. Aber das Entwicklungsmodell kommt an seine Grenzen. Die Regierung braucht innovative Strategien, um die Konjunktur zu beleben und soziale Inklusion weiter zu fördern.
Präsidentin Dilma Rousseff (Mitte) mit ihren Vorgängern Lula da Silva (links) und Fernando Cardoso im Jahr 2012. picture-alliance/dpa Präsidentin Dilma Rousseff (Mitte) mit ihren Vorgängern Lula da Silva (links) und Fernando Cardoso im Jahr 2012.

Nach einem ungewöhnlich aggressiven, von Schuldzuweisungen geprägten Wahlkampf wurde Dilma Rousseff am 26. Oktober als brasilianische Präsidentin mit einem knappen Vorsprung von etwas mehr als drei Prozent im Amt bestätigt. Sie steht vor großen Herausforderungen, die auch Folge ihrer wenig zufriedenstellenden ersten Amtszeit sind.

Der Wahlkampf hat in Brasilien ein Gefühl der Ratlosigkeit hinterlassen. Dies war die wohl am stärksten umkämpfte Wahl seit dem Ende des Militärregimes vor drei Jahrzehnten. Das Ergebnis war knapper als früher. Beobachter interpretieren den Sieg Rousseffs über Aecio Neves, den Mitte-Rechts-Kandidaten, als Zeichen einer tiefen Spaltung des Landes und sprechen von „Venezuelarisierung“. Das ist wahrscheinlich Unfug. Brasilien ist nicht in zwei ideologische Lager polarisiert wie Venezuela. Trotz harter Rhetorik standen sich die beiden Kandidaten und ihre Anhänger näher, als sie öffentlich eingestehen würden. Die Grundprobleme der brasilianischen Gesellschaft sind erkannt, und die Politik, die in den vergangenen 20 Jahren einen gewissen Fortschritt gebracht ist, ist allgemein anerkannt. Es war eigentlich klar, dass kein Wahlsieger die Programme streichen würde, die zur sozialen Inklusion beitragen. International am bekanntesten ist davon wohl Bolsa Familia, eine Art Sozialhilfe, die arme Familien erhalten, wenn sie ihre Kinder zur Schule schicken und impfen lassen.

Zugleich schien aber auch kein Kandidat ein Konzept zu haben, um die lahmende Wirtschaft – und insbesondere das verarbeitende Gewerbe – in Schwung zu bringen. Also verschärften beide Seite ihre Sprache und konzentrierten sich auf zweitrangige Themen wie Korruption. Ob und in welchem Maß die Wähler die Nähe der politischen Lager erkannt haben, ist offen.


Demokratisch gesund

Das knappe Wahlergebnis ist vermutlich ein Zeichen politischer Reife. Seit dem Ende der Militärherrschaft hatten sich bei Präsidentschaftswahlen charismatische Persönlichkeiten durchgesetzt. 1989 wirkte Fernando Collor de Mello wie ein Messias; er wurde jedoch des Amts enthoben, als seine Schwächen deutlich wurden. Fernando Cardoso gewann 1994 und 1998, wobei er von seinem Ruf als intellektueller Gegner des Militärs und seinem Erfolg als Finanzminister profitierte, weil er die jahrzehntelang hohe Inflation in den Griff bekommen hatte. 2002 und 2006 siegte Lula da Silva als populärer Gewerkschafter und Gegner der autoritären Herrschaft.  

Im Vergleich wirkten die Kandidaten diesmal normal. Und unter normalen Umständen sind demokratische Wahlen meist knapp, wie wir aus Westeuropa oder Nordamerika wissen. Wähler entscheiden gern zwischen Mitte-Links und Mitte-Rechts, sodass Amtswechsel ein üblicher Bestandteil der Politik sind. Dass Brasilien seit 20 Jahren bei Präsidentschaftswahlen auf beiden Seiten vernünftige und plausible Kandidaten hat, deutet auf eine gesunde Demokratie hin.

Früher lautete ein beliebter zynischer Spruch: „Brasilien ist das Land der Zukunft und wird es immer bleiben.“ Er unterstellte, dass eine kleine elitäre Führungsschicht das Land nicht entwickeln würde und die breite Masse keinen Einfluss hätte. Das ist nicht mehr so. Die Menschen beteiligen sich an der Politik und alle relevanten Kandidaten bemühen sich um Fortschritt.


Steinige Strecke

Dennoch war klar, dass unabhängig vom Wahlausgange jetzt schwierige Zeiten anstehen. Für Rousseff ist der Druck jetzt vermutlich etwas größer, da sie als Amtsinhaberin nicht die Schonzeit erhält, die einem neugewählten Staatsoberhaupt zusteht. Hätte Neves gewonnen, könnte er jetzt in Ruhe Prioritäten setzen, Strategien formulieren und das Kabinett zusammenstellen, bevor Medien und Öffentlichkeit Ergebnisse fordern. Rousseff dagegen muss sofort handeln. Als wiedergewählte Präsidentin sollte sie schließlich wissen, wie man regiert. Ihre Gegner, aber auch ihre Anhänger, werden bald wissen wollen, was sie mit ihrem neuen Mandat macht.
 
Die ökonomische Lage ist in Brasilien nicht katastrophal und sicherlich besser als in Westeuropa, sie ist aber auch nicht zufriedenstellend. Laut Zentralbank ist das Bruttoinlandsprodukt (BPI) in den ersten drei Jahren unter Rousseff nur langsam gewachsen (2011 um 2,7 Prozent, 2012 um Prozent 2012 und voriges Jahr um 2,5 Prozent). Für 2014 liegt die Erwartung bei gegen Null und nächstes Jahr dürfte kaum besser werden.

Rousseffs Problem ist, dass „Weiter so“ nicht reicht. Neves hätte vor demselben Problem gestanden. Der Erfolg der vergangenen 20 Jahre beruhte auf verschiedenen, sich wechselseitig bedingender Faktoren, und diese Dynamik ist zu Ende. Grob vereinfacht sah Brasiliens Entwicklungsmodell so aus:

  • Billige Konsumgüterimporte aus China und anderen Schwellenländern hielten die Inflation im Zaum.
  • Die starke, internationale Rohstoffnachfrage brachte genug Geld, um solche Importe zu ermöglichen und einen Teil des Wohlstands umzuverteilen.
  • Die Regierung baute die Infrastruktur aus und modernisierte ihre Sozialpolitik mit Bolsa Familia und ähnlichen Maßnahmen.


Das Fundament legte Cardoso, und Lula konsolidierte das Modell. Die Ergebnisse waren gut. Die Wirtschaft wuchs, immer mehr Menschen entkamen der Armut und laut FAO ist Hunger heute in Brasilien kein Problem mehr. Wachstum führte zu Investitionen und formalen Arbeitsplätzen. Die Stimmung im Land war gut.

Leider konnte die Aufwärtsdynamik nicht ewig anhalten. In den vergangenen drei Jahren waren die Investitionen schwach. Private Investoren agieren seit einiger Zeit verhalten, und der Staat kürzt tendenziell öffentliche Vorhaben, wenn Haushaltsdisziplin gefordert wird. Aus verschiedenen Gründen wie Umweltschutz und Minderheitenrechten stocken zudem einige große Infrastrukturvorhaben der Bundesregierung.

Die Inflation schwankt seit drei Jahren knapp unter 6,5 Prozent. Die Zentralbank erwartet, dass das bis auf weiteres so bleibt. Die Realeinkommen der Gruppen, die keine Lohn- und Einkommenserhöhungen durchsetzen können, werden dadurch ausgehöhlt. Zudem belastet die Menschen die Sorge, die Preissteigerung könnte aus dem Ruder laufen. Die Erinnerung an schmerzlich hohe Inflationsraten ist noch wach.

Sorgen macht auch die Leistungsbilanz. Ihr Defizit beläuft sich derzeit auf rund 80 Milliarden Dollar im Jahr. Bisher konnte es finanziert werden, weil ausländisches Kapital hereinströmte und die Devisenreserven aufpolsterte. Es ist allerdings riskant, sich auf solche Finanzströme zu verlassen, denn sie können plötzlich versiegen. Das Thema ist jetzt aktuell, weil sich die Geldpolitik der USA ändert. Bisher wollte die US-Notenbank die Konjunktur mit unorthodox billigem Geld stimulieren. Wenn sie das ändert, dürften US-Investoren schnell ihr Interesse an Schwellenmärkten verlieren.

Die Beschäftigung ist in Brasilien erstaunlich stabil. Leider sinkt die Zahl der Arbeitsplätze in der verarbeitenden Industrie geringfügig, während im Handel- und Dienstleistungssektor Jobs entstehen. In Entwicklungsländern erfordern diese meist keine besondere Qualifikation und sind schlechter bezahlt als in der Industrie. Es ist aber gut, dass die formale Beschäftigung stabil ist, weil sie mehr Rechte und soziale Sicherheit bringt als informelle Tätigkeit.


Politik-Falle

Rousseff muss sich den Herausforderungen stellen. Sie muss einer Politik-Falle entkommen, in der das Land seit Mitte der 90er steckt. Die Inflationsbekämpfung nutzte billige Importe, um heimische Hersteller von Preiserhöhungen abzuhalten. Sie basierte auf hohen Zinsen, die verschiedene Effekte hatten: Sie beschränkten die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und zogen ausländisches Kapital an.
 
Eine Folge dieser Geldpolitik ist aber die Überbewertung der Währung. Darunter leidet die Wettbewerbsfähigkeit der brasilianischen Produzenten auf heimischen und internationalen Märkten. Diese Politik bekämpft wirkungsvoll Inflation, aber sie macht dem produzierenden Gewerbe das Leben schwer, weil billige Importe den Markt überschwemmen.

Solange die agrarischen und mineralischen Rohstoffe, die Brasilien ausführt, teuer blieben, ließ sich diese Politik durchhalten. Aber mittlerweile stockt die Konjunktur. Um die heimische Industrie in Schwung zu bringen, muss langfristig die Produktivität steigen. Brasilien muss also in Produktionskapazitäten und Ausbildung investieren. Kurz- bis mittelfristig ist zudem eine Abwertung nötig. Wenn die Gewinne nicht steigen, wird die Industrie nicht investieren – und der Teufelskreis aus Überbewertung, reduzierter Wettbewerbsfähigkeit, steigenden Importen, wachsender Abhängigkeit von Kapitalzuflüssen und weiterer Überbewertung setzt sich fort.

In diesem Szenario reicht es nicht, die Gesamtnachfrage mit Maßnahmen zu stimulieren, die hauptsächlich auf Konsumsteigerung hinauslaufen. Das gelang 2009 in gewissem Maße, wirft jetzt aber Probleme auf. Zudem ist es riskant, die Währung abzuwerten, wenn die Inflationsrate bereits über sechs Prozent liegt. Bisher hat Rousseff keinen Weg aus diesem Dilemma gefunden.


Anhaltende Ungleichheit

Die sozialpolitischen Mittel, die bisher zum Erfolg führten, stoßen indessen an ihre Grenze. Extreme Armut ist jetzt mit universalen, breit aufgestellte Programmen wie Bolsa Familia nicht mehr zu erreichen. Es steht nun etwas anderes an, als irgendein Grundeinkommen für arme Menschen zu schaffen. Brasilien muss Schulen, Berufsbildung, das staatliche Gesundheitswesen und vieles mehr verbessern. Dafür sind innovative und komplexe Strategien nötig. Die Aufgabe ist riesig.

Brasilien hat mehr Inklusion erreicht, die Ungleichheit ist aber weiterhin enorm und die sozialen Bedürfnisse der Massen sind groß. Gebraucht wird ein neuer Wachstumspfad. Präsidentin Rousseff hat das Mandat, ihn zu finden. Wir hoffen alle, dass sie ihrer Aufgabe gewachsen ist.

 

Fernando Cardim de Carvalho ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universidade Federal von Rio de Janeiro.
fjccarvalho@uol.com.br