Gleichgeschlechtliche Ehe

Jede Heirat ist politisch

Argentinien hat 2010 als erstes Land in Lateinamerika die gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt. Die Rechte Homosexueller dort reichen weiter als in anderen Ländern, die sexuelle Diversität rechtlich anerkennen. Zu den Aktivisten, die für das Gesetz gekämpft haben, gehört auch der Autor dieses Textes.
Das erste homosexuelle Ehepaar in Argentinien im August 2010. La Valle/picture-alliance/dpa Das erste homosexuelle Ehepaar in Argentinien im August 2010.

Ich dachte nie, dass ich einmal heiraten würde. Als Kind deswegen nicht, weil meine Eltern niemals formell geheiratet hatten. Als Jugendlicher – als ich meine ersten Freundinnen hatte – nicht, weil ich gegen alles Konservative rebellierte, und dazu gehörte auch die Ehe. Völlig undenkbar war eine Heirat, als ich begann, meine bi- und homosexuellen Lieben auszuleben. Damals war dies schlicht verboten.

Aber wir waren die Generation, die in der Theorie, auf der Straße und im Bett die konservativen Vorurteile herausforderten, die auch 20 Jahre nach Ende der Diktatur in Argentinien noch gang und gäbe waren. In einer kalten Winternacht, am 15. Juli 2010, marschierten wir mit vielen Freunden und Mitstreitern zum Parlament. In dieser Nacht votierte der Kongress für das Gesetz der gleichgeschlechtlichen Ehe in Argentinien. Zu Tausenden feierten wir auf dem Parlamentsvorplatz den Erfolg nach vielen Jahren des Kampfes.

Laut Zahlen der „Federación Argentina Lesbianas Gays Bisexuales y Trans“, einer Vereinigung für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender (LGBT), haben seit Einführung dieses Gesetzes bis Juli 2015 in Argentinien 9423 gleichgeschlechtliche Paare geheiratet. Aufgrund der vorangegangenen Debatte ist es in der gesamten Gesellschaft leichter geworden, Sexualität und Geschlechtsidentität offener zu leben.

Dieser soziale Wandel und diese juristische Errungenschaft sind das Resultat „eines Prozesses des demokratischen Aufbaus von individuellen und kollektiven Rechten“, sagt Lucas Arrimada, Anwalt und Professor an der Universität von Buenos Aires.

Eine der ersten Gruppierungen, die diesen Prozess anstießen, war die 1973 gegründete „Front der homosexuellen Befreiung“ (Frente de Liberación Homosexual – FLH). Sie setzte sich nicht nur für gleiche Rechte für Homosexuelle ein, sondern auch für Frauenrechte. „Lieben und frei leben in einem befreiten Land“, hieß einer ihrer Slogans.

Von der FLH spaltete sich die Lesben-Organisation SAFO ab. Beide Gruppen wurden während der Militärdiktatur (1976–1983) zerschlagen; die meisten ihrer Mitglieder sind bis heute verschwunden. Aber mit ihrem Kampf für die sexuelle Emanzipation beeinflussten sie die argentinische Geschichte an wichtigen Punkten.

In den 1980er Jahren, nach Ende der Militärdiktatur, begann nach und nach wieder die Debatte über Sexualität und Institutionen. 1984 gründete Carlos Jáuregui die Organisation „Comunidad Homosexual Argentina“ (CHA).

1992 organisierte CHA den ersten Gay Pride March in Buenos Aires. Die Mehrheit der Demonstranten marschierten mit verhülltem Gesicht, da sie Repressionen auf ihrer Arbeitsstelle befürchteten. Im Jahr darauf verdreifachte sich die Zahl der Demonstranten; andere Städte schlossen sich an. Die Solidarität mit Homosexuellen wuchs.


Argentinien gewinnt den „Gotteskrieg“

Während der Militärdiktatur spielte die katholische Kirche eine zentrale Rolle, indem sie moralische Vorgaben machte. Das argentinische Bischofsamt veröffentlichte zwei Monate nach dem Putsch 1976 einen Brief, in dem es hieß, dass „im Interesse des Gemeinwohls gewisse Freiheiten geopfert werden müssen“.

Der bekannte Journalist Horacio Verbitsky führt in seinem Buch „El Vuelo“ („Der Flug“), einer bahnbrechenden Recherche über die Diktatur, Zeugenaussagen von Priestern an: Die Methode, verschleppte Gegner der Diktatur zu ermorden, indem sie betäubt und gefesselt aus Flugzeugen ins Meer geworfen wurden, betrachteten viele Kirchenfunktionäre als eine „christliche Form“ des Tötens, weil „die Opfer nicht leiden mussten“.

Doch nach Ende der Diktatur forderten der soziokulturelle Transformationsprozess und seine ideologischen Debatten die reaktionären Kräfte der Gesellschaft heraus, so auch die Kirche. Als Institution kämpfte sie gegen Veränderungen: 1987 gegen das Scheidungsgesetz, und im letzten Jahrzehnt waren die Homosexuellen ihr neuer Feind.

Der damalige Erzbischof von Buenos Aires, Jorge Bergoglio – der heutige Papst Franziskus – begann den sogenannten „Kreuzzug gegen die Schwulenehe“, wie es die argentinische Presse nannte. Startpunkt war ein Brief Bergoglios Anfang Juli 2010, in dem er schrieb, eine Ehe zwischen Personen des gleichen Geschlechts diene dazu, den „Plan Gottes zu zerstören“ und sei erdacht vom „Vater der Lüge, dem Teufel“. Er forderte die Politiker auf, „in diesem Gotteskrieg“ die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe in Argentinien zu stoppen.

Doch das argentinische Parlament stimmte dafür. „Der Lauf der Geschichte hat ihn überrollt“, kommentiert die Psychologin Andrea D'Atri von der Frauen/LGTB-Gruppe „Pan y Rosas“.

Eine weitere Debatte betraf die Adoption durch homosexuelle Paare. Das häufigste Argument dagegen lautete, dass eine „echte Familie“ aus einer Mutter und einem Vater bestehe. Allerdings stimmte dies schon vor der Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe nicht: 30 Prozent der Familien bestanden aus alleinerziehenden Frauen mit ihren Kindern.

Schon bevor das neue Gesetz erlassen wurde, konnten in Argentinien alleinstehende Menschen Kinder adoptieren, ohne dass sie ihre sexuelle Orientierung angeben mussten. Jetzt können auch gleichgeschlechtliche Paare adoptieren, und beide haben die gleichen Rechte und Pflichten gegenüber dem Kind.

Trotz allem ist die Ehe eine Institution mit Vor- und Nachteilen. D'Atri sagt, die Ehe sei einfach „ein Vertrag. Aber wir müssen eine Gesellschaft schaffen, in der Paare, egal wie sie rechtlich formiert sind, vom Staat geschützt sind.“ Die gleichgeschlechtliche Ehe spielt eine wichtige Rolle im gesellschaftlichen Wandel hin zu mehr Rechten, „weil der Staat alle seine Bürger und Bürgerinnen gleich behandelt und somit Diversität sozial legitimiert“, bestätigt der Anwalt Arrimada.


Gleichheit vor dem Gesetz – Gleichheit vor dem Leben?

In Argentinien blieb es nicht bei der gleichgeschlechtlichen Ehe. Im Mai 2012 wurde das Gesetz über Geschlechtsidentität erlassen. Transvestiten, Transsexuelle und Transgender werden nicht mehr pathologisiert, sondern Transpersonen können in ihren Dokumenten das Geschlecht ihrer Wahl eintragen lassen. Operationen, die notwendig sind, um die Physis an das Geschlecht der Wahl anzugleichen, werden vom Gesundheitssystem getragen, sowohl von gesetzlichen als auch von privaten Krankenversicherungen.

Doch nach wie vor haben Transpersonen aufgrund von Diskriminierung nur wenig Zugang zum Arbeitsmarkt, obwohl 15 Prozent von ihnen Alleinverdiener in ihren Familien sind. Viele müssen sich prostituieren, um zu überleben; Schikanen der Polizei sind an der Tagesordnung. All dies führt dazu, dass die Lebenserwartung von Transvestiten nur 32 Jahre beträgt – weit weniger als die Hälfte der Lebenserwartung der argentinischen Durchschnittsbevölkerung, die 2014 bei 76 Jahren lag.

Häufig sind auch homophobe Attacken, denen vor allem Jugendliche im Alltag ausgesetzt sind. Berüchtigt ist die Stadt Mar del Plata, wo eine stadtbekannte Neonazi-Bande regelmäßig mit ungewöhnlich heftiger Gewalt junge Schwule und Gay-Aktivisten angreift.

Doch das neue Gesetz und die neuen Rechte haben ein Stück Freiheit geschaffen, was sich in die kulturelle Genetik des Volkes einschreiben wird, in sein demokratisches Herz. Vor kurzem habe ich mich entschieden, mein Recht zu nutzen, und habe geheiratet. Dies war nicht allein eine politische Entscheidung, sondern weil ich jemanden liebe und das Leben liebe.


Sebastián Vargas ist Journalist und lebt in Buenos Aires.
zevu.vargas@gmail.com


Links

Federación Argentina Lesbianas Gays Bisexuales y Trans:
http://www.falgbt.org/

Comunidad Homosexual Argentina (CHA):
http://www.cha.org.ar/

Pan y Rosas:
http://panyrosas.org.ar/