Kollektives Trauma
Selbst das grausamste Böse kann eine banale Grundlage haben
Hannah Arendt war eine in Deutschland geborene jüdische Intellektuelle, die aus Nazideutschland floh. Als Reporterin für die amerikanische Zeitschrift New Yorker berichtete sie über den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem. Eichmann hatte den Transport von über 2 Millionen europäischen Juden in verschiedene Vernichtungslager organisiert – zum Beispiel nach Auschwitz und Treblinka in Polen. Um 1950 gelang es ihm, nach Argentinien zu fliehen. Der israelische Geheimdienst Mossad spürte ihn dort auf, brachte ihn nach Israel und stellte ihn vor Gericht.
Arendts Artikel im New Yorker wurde später in einem Buch veröffentlicht. Als es 1963 erschien, war es höchst umstritten. Arendt wurde sogar des Antisemitismus und des jüdischen Selbsthasses bezichtigt. Der Untertitel des Buches – die Banalität des Bösen – wurde oft missverstanden, und sie bedauerte später, ihn gewählt zu haben. Heute gilt das Buch als klassische Abhandlung über Aspekte totalitärer Herrschaft.
In ihren Augen war Eichmann ein Verbrecher, der die Todesstrafe verdiente. Er war jedoch banal in dem Sinn, dass er Befehle befolgte, seine Pflichten erfüllte und versuchte, seine Karriere voranzutreiben. Dass er das tat, war böse, denn er diente einem verbrecherischem Regime und ermöglichte den Völkermord.
Aus Arendts Berichten geht eindeutig hervor, dass Eichmann selbst nicht von Rassenhass zerfressen war. Er hat auch niemanden direkt getötet oder verletzt. Er hat jedoch nie die Folgen sein Handelns hinterfragt oder die Rechtmäßigkeit des Regimes, dem er diente, infrage gestellt. Er beharrte darauf, dass er nur Pflichten erfüllt habe und folglich nicht er, sondern nur seine Vorgesetzten Schuld trügen. Arendt bezeichnete ihn als „banal“ im Sinne eines kleingeistigen Bürokraten.
Missverstandener Untertitel
Dennoch haben manche ihren Untertitel so verstanden, dass sie das Böse der Nazis als „banal“ betrachtete. Das hat sie aber keinesfalls getan. Die israelische Staatsanwaltschaft stellte Eichmann als blutrünstiges Monster und Drahtzieher des Völkermordes dar. Arendt bestand darauf, dass dies eine falsche Interpretation seiner Persönlichkeit sei – und dass er nie die offizielle Befugnis gehabt habe, ein solch schreckliches, den ganzen Kontinent umspannendes Vorhaben durchzusetzen.
Sie räumte ein, dass Eichmann sich schuldig gemacht habe und mit seiner Rolle geprahlt hatte. Da er dies unter Naziflüchtlingen in Argentinien getan hatte, wurde er schließlich in seinem Versteck entdeckt. Arendt beharrte jedoch darauf, dass die Beweise zeigten, dass er nichts weiter als ein fleißiger und effizienter Untergebener war, der seine Arbeit gründlich machte und sich nicht um die Folgen kümmerte.
Dissens mit Israels Premierminister
Viele fanden ihre Einschätzung beunruhigend. Die Öffentlichkeit wollte die Naziverbrecher als Soziopathen und Psychopathen sehen, nicht als gewöhnliche Karrieristen. Der damalige israelische Premierminister David Ben Gurion wollte den Fall Eichmann nutzen, um zu verdeutlichen, dass Juden schon immer diskriminiert wurden und ständig der Gefahr der Verfolgung ausgesetzt waren. Es ging ihm darum, Eichmann als Monster antisemitischen Hasses darzustellen.
Arendt, selbst ehemalige Zionistin, fand Antisemitismus völlig inakzeptabel. Dennoch lehnte sie die Art und Weise, wie Ben Gurion Eichmann sehen wollte, ab. Für sie bedeutete sein Ansatz, das zu ignorieren, was den Nazivölkermord einzigartig machte. Aus ihrer Sicht war der Genozid an den Juden deshalb besonders bösartig, weil er von Funktionären mit niedrigen Rängen kaltblütig und bürokratisch durchgeführt wurde. Eichmann war ein herausragendes Beispiel für einen Beamten, der sich so verhielt, als ob er normale Regierungspolitik umsetzte, ohne sich um das unfassbare Leid zu kümmern, das sie verursachte.
Arendt zufolge hatte der Prozess in Jerusalem Züge eines Schauprozesses. Sie argumentierte, dass der Staat Israel Eichmann niemals angeklagt hätte, wenn er sich seiner Verurteilung nicht sehr sicher gewesen wäre. Wenn aber der Ausgang eines Prozesses schon vor der Verhandlung feststeht, geht es nicht darum, herauszufinden, was genau der Täter getan hat und welche Beweise es gibt. Für Arendt zählte die beispiellose „Banalität“ des Massenmordes mehr als ein Schauprozess, der den Antisemitismus betont und damit der Legitimation Israels dient.
In Strafprozessen geht es um die Schuld der Täter
Tatsächlich hatte Eichmann formell nicht gegen deutsches Recht verstoßen. Deshalb war er nach eigener Einschätzung auch nicht kriminell. Arendt sah das anders. Sie wies darauf hin, dass das nationalsozialistische Recht gegen grundlegende Prinzipien der Menschlichkeit verstieß. Eichmanns Verbrechen bestand in ihren Augen darin, einem verbrecherischen Regime ehrgeizig und fraglos gedient zu haben.
Als hochrangige Nazis nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wurden, entschied der Internationale Gerichtshof, dass ihre Schuld nicht davon abhing, ob sie gegen deutsches Recht verstoßen hatten. Ausschlaggebend war, dass ihre Handlungen schweren Schaden verursacht hatten. Würde man das als normal akzeptieren, wäre es unmöglich, irgendeine Art von friedlicher internationaler Ordnung durchzusetzen. Arendt stimmte diesem Argument zu. In ihren Augen traf es auch auf Eichmann zu.
Arendt war überzeugt, in einem Strafprozess gehe es nicht um das Leid der Opfer, sondern um die Schuld der Täter. Mord – und erst recht Völkermord – betreffe nicht nur die Opfer, sondern störe auch den Frieden in der Gesellschaft und sogar zwischen den Nationen. Um den Frieden und das gegenseitige Vertrauen wiederherzustellen, müsse man sich mit der Schuld auseinandersetzen, argumentierte sie. Dies ist ein wichtiger Teil der Aufarbeitung einer traumatischen Vergangenheit. Die Entschädigung der Opfer ist auch wichtig, aber Arendt betrachtete dies als ein separates Thema.
Eine unbequeme Wahrheit
Arendts Buch löste auch deshalb eine Kontroverse aus, weil es die Rolle der so-genannten „Judenräte“ beim Völkermord nicht unter den Teppich kehrte. Diese Räte bestanden aus angesehenen jüdischen Mitgliedern, die ihre Gemeinde verwalten sollten. Sie kooperierten in hohem Maße mit den Nazis, und viele von ihnen konnten als Belohnung dem Holocaust entkommen. Arendt machte deutlich, dass die systematische Weitergabe von Personendaten an die NS-Verwaltung es dem Regime ermöglichte, Juden leicht zu identifizieren. Ohne die Judenräte wäre der Völkermord schwieriger zu organisieren gewesen. Eichmanns Transportlogistik stützte sich zum Beispiel auf solche Informationen.
Für viele Juden war das eine unangenehme Wahrheit. Dementsprechend wurde Arendt schnell und beleidigend des Antisemitismus beschuldigt.
Allerdings lobte sie die Arbeit der Richter in Jerusalem und befürwortete die Todesstrafe für Eichmann. Die Richter, so schrieb sie, hätten dem Angeklagten sehr genau zugehört und sich nicht von der Fokussierung der Anklage auf den Antisemitismus beirren lassen.
Der schlimmste Aspekt der nationalsozialistischen Morde liege in ihrer industriellen Präzision und ihrem Ausmaß, fand Arendt. Dies war nur möglich, weil Menschen wie Eichmann nicht die moralische Dimension der Befehle, die sie befolgten, bedachten oder ihr eigenes Handeln. In diesem Sinne war Eichmann tatsächlich gewöhnlich, trivial oder banal. Seine Arbeit war natürlich nicht gewöhnlich, sondern mörderisch. Dass er nicht von einer ausgeprägten antisemitischen Ideologie angetrieben wurde, machte ihn noch heimtückischer. Arendts Analysen sind der Grund, warum das Buch auch heute noch als wichtig betrachtet wird. Ihre Berichte aus Jerusalem zeigten wichtige Merkmale des Totalitarismus auf.
Menschen, die Böses tun, tun es vielleicht nur, weil sie banal unverantwortlich sind. Unter einer anderen Regierung wäre Eichmann vielleicht harmlos gewesen. Was ihn bösartig machte, war, dass er Befehle bedingungslos befolgte, und nicht dass er tief in seinem Inneren den Wunsch hatte, andere zu töten und zu schädigen. Er machte sich schuldig, weil er das Leid, das er verursachte, nicht bedachte.
Dieser Punkt ist wichtig, um nicht nur die Gräueltaten der Nazis, sondern auch Verbrechen unter totalitärer Herrschaft im Allgemeinen zu verstehen. „Eichmann in Jerusalem“ und andere Bücher von Arendt wurden zu Klassikern. Die Autorin verdient Aufmerksamkeit in einer Zeit, in der autoritäre Führer vielerorts an Einfluss gewinnen.
Buch
Arendt, H., 2011: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München, Piper. (Die Originalausgabe wurde1963 von Viking Press in den USA veröffentlicht).
Suparna Banerjee ist Politikwissenschaftlerin aus Frankfurt.
mail.suparnabanerjee@gmail.com