Migration
Leben an der Grenze
Ein Café im Zentrum der Medina, dem Altstadtzentrum der Küstenstadt Tanger, ist ein beliebter Ort transnationalen Zusammentreffens. Hier gibt es marokkanischen Tee mit Minze und kräftig Zucker. Die meisten Besucher des Cafés sind Migranten aus dem westlichen Teil Afrikas. Hier verbringt Bouba* seine Tage. Der hochgewachsene Senegalese mit kurzen Dreadlocks und einem Ohrstecker lebt seit zwei Jahren in Tanger. Früher spielte der heute 40-Jährige professionell Basketball, zeitweilig sogar in Marokko und Tunesien. Dafür hatte er als Jugendlicher die Schule abgebrochen. Jetzt ist er zu alt dafür, und über eine andere Ausbildung verfügt er nicht. Er hat weder Frau noch Kinder, anders als seine Freunde im Senegal. „Die sind zufrieden“, erzählt er, „für sie gibt es keinen Grund, auszuwandern.“
Bouba hingegen möchte nach Europa. Wie für viele der subsaharischen Migranten ist sein Ziel der „Bordeaux“, der weinrote Reisepass der Europäischen Union – für ihn das Zertifikat der Freiheit und unendlichen Möglichkeiten. Es zieht ihn nach Norden, am liebsten nach Dänemark, Schweden oder Norwegen. Dort geht im Sommer die Sonne schon um drei Uhr nachts auf, hat man ihm erzählt. Das will er sehen, das ist sein Traum. Außerdem hat er noch nie jemanden aus diesen Ländern kennengelernt und hofft deshalb, dass die Menschen dort besonders freundlich sind.
Aufgrund seiner geographischen Lage hat Tanger eine lange Tradition als Tor zwischen Europa und Afrika. Die Meerenge von Gibraltar, die Marokko vom europäischen Festland trennt, ist an der engsten Stelle nur etwa 14 Kilometer breit. Täglich setzen hier Tausende Touristen aus Spanien für einen Tagesausflug nach Afrika über. Doch eine unkomplizierte Einreise in die Europäische Union (EU) wird nicht jedem gewährt.
Migranten wie Bouba sind darauf angewiesen, nachts in kleinen Booten eine lebensgefährliche Fahrt nach Europa zu wagen. Dreimal hat Bouba schon versucht, nach Spanien zu kommen. „Für euch ist es so einfach“, sagt er, „aber für uns Afrikaner ist es wie ein Spiel, du musst es immer und immer wieder versuchen.“ Die Strecke zwischen den beiden Kontinenten scheint lächerlich kurz angesichts der vielen tausend Kilometer, die viele der Migranten bis hierher bereits hinter sich gebracht haben. Dennoch erweist sich diese letzte Etappe über das Meer vielfach als die größte Herausforderung der gesamten Reise. Nicht selten verbringen Transitmigranten wie Bouba einige Jahre in Marokko, bis ihnen der letzte Reiseabschnitt gelingt.
Schlepper kassieren ab
Die nächtlichen Überfahrten werden von Schleppern organisiert und sind sehr teuer. Ab 200 Euro und bis über 1000 Euro kosten sie pro Person. Wer wenig Geld hat, kauft sich einen Platz auf einem Schlauchboot und muss selbst paddeln. In Tanger lassen sich Schlepper dafür bezahlen, eine Gruppe von Migranten nachts an die Küste – oft nahe der spanischen Exklave Ceuta – zu bringen. Das Schlauchboot wird rasch aufgebaut und im Schutz der Dunkelheit ins Wasser geschoben. Viele Migranten können nicht schwimmen.
Die Überfahrt ist hart und anstrengend. Erstes Ziel ist die internationale Gewässerzone zwischen den beiden Hoheitsgebieten. Dort sieht man bei Nacht weder Afrika noch Spanien. „Da ruhen wir uns kurz aus“, sagt Bouba, „und man hat schon mal die Hälfte geschafft. Aber es ist dunkel, und man darf nicht die Orientierung verliehen, denn leicht treibt die starke Strömung die einfachen Boote hinaus auf den Atlantik.“ Viele Migranten haben ein Handy bei sich und melden sich, sobald sie sicher auf die andere Seite gelangt sind. Viel zu oft kommt jedoch keine Nachricht. In den letzten 20 Jahren sollen an den Außengrenzen Europas über 23 000 Menschen ums Leben gekommen sein.
Im Jahr 2011 gewährte die EU rund 1,7 Millionen Migranten aus Ländern außerhalb Europas legalen Einlass – weit weniger als die Anzahl derer, die einzureisen versuchten. Im gleichen Jahr erfasste die EU-Grenzschutzagentur Frontex rund 141 000 illegale Grenzüberschreitungen. Mit der Hoffnung auf Arbeitsmöglichkeiten und ein besseres Einkommen sowie den düsteren politischen, rechtlichen und ökonomischen Verhältnissen in den Heimatländern begründen Migranten wie Bouba ihre Entscheidung, die Grenze illegal zu überqueren.
„Reiseunternehmer“, Zwischenhändler und Menschenschmuggler sowie auch Grenzbeamte und Soldaten bieten ihre „Hilfe“ bei der Überquerung der Grenze an – sie profitieren vom lukrativen Geschäft mit der illegalen Einreise. An Europas Außengrenzen wächst der Markt des Menschenschmuggels in einem besorgniserregenden Ausmaß, wie das unabhängige Migration Policy Institute (MPI) berichtet und wie jüngste Vorfälle von besatzungslos auf dem Mittelmeer treibenden Schlepperbooten zeigen. Boubas bisherige Überfahrten blieben alle erfolglos. Über die genauen Geschehnisse möchte er nicht sprechen. Sollte es ihm bei der nächsten Überfahrt gelingen, das spanische Festland zu betreten, hat er sich vorgenommen, Englisch zu sprechen und vorzugeben, aus Sierra Leone zu stammen. Denn Senegalesen werden aufgrund eines Rückführungsabkommens zwischen Spanien und dem Senegal sofort abgeschoben. Wenn er es dann nach Spanien geschafft hat, schicken ihm Freunde seinen senegalesischen Pass zu. Er hat noch einen weiteren Plan, einen Plan B, der bleibt jedoch geheim.
Treffpunkt Café
Bis dahin muss er sich in Tanger die Zeit vertreiben und Geld verdienen. Immer wieder nimmt er kleine Jobs in Haushalten an, um über die Runden zu kommen. Etwa 600 Dirham (knapp 60 Euro) pro Monat bekommt er so zusammen. Das reicht kaum aus. Wenn es besonders eng wird, spricht er reiche Marokkaner an und bittet sie um Hilfe.
Ein Teil der Migranten in Tanger lebt im Stadtteil Boukhalef, nahe dem Flughafen. Ein anderer Teil hat sich im Altstadtzentrum niedergelassen. Bouba verbringt viel Zeit mit anderen Migranten in dem Café in der Medina. Dort könne man sich austauschen, dort halte man zusammen.
Gleich nebenan lädt Amadou Kebe zum Essen in sein Restaurant „Chez Kebe“ ein. Auf gerade einmal acht Quadratmetern bietet der junge Senegalese Speisen aus seiner Heimat an: Hier gibt es eine komplette Mahlzeit für umgerechnet zwei Euro. Mit seinem Restaurant hat er ein bemerkenswertes solidarisches Projekt auf die Beine gestellt: Es dient als Ort des interkulturellen Zusammentreffens und der Solidarität mit den subsaharischen Migranten. Seine Gäste – Migranten wie Einheimische – haben hier die Möglichkeit, „un plat en attente“ an Bedürftige zu spenden, die die nächste Mahlzeit nicht zahlen können.
Nachts schläft Bouba in einem der einfachen Hotels im Zentrum. Viele Migranten teilen sich zu mehreren ein Zimmer, das etwa 30 bis 40 Dirham (3 bis 4 Euro) pro Nacht kostet. Bouba schläft jedoch lieber allein. Unter Migranten herrsche oft eine traurige, aggressive Stimmung, sagt er. Es würde ihn nur noch mehr runterziehen, wenn er mit ihnen zusammenwohnte.
Seine Familie, seine Eltern und Geschwister fehlen ihm, sagt Bouba, doch eine Rückkehr ist für ihn nicht denkbar. „Si j’avance, ma famille avance aussi“, so seine Devise – er muss vorankommen, nur so kann es seiner Familie auch bessergehen. Er will nicht in den Senegal zurück, sagt er, dort bekommt er zu wenig Geld für seine Arbeit.
„Warum gibt es Grenzen?“, fragt Bouba immer wieder. „Wie kann es sein, dass Europäer hierherkommen können, wann sie wollen, während für uns Afrikaner die Grenze geschlossen bleibt?“ Für ihn ist es eine Frage des zwischenmenschlichen Respekts, der hier vollständig auf der Strecke bleibt. Die Angst der EU, überrannt zu werden, wenn sie ihre Grenzen öffnet, kann er nicht nachvollziehen. Die als „bedrohlich“ titulierten „Anstürme von Migranten“ hat die EU mit ihrer Grenzpolitik letztendlich selbst verschuldet.
Amnesty International (AI) und andere Organisationen äußerten wiederholt scharfe Kritik am Grenzschutz und dem Asylverfahren der EU. Immer wieder kommt es laut AI zu Menschenrechtsverletzungen, besonders beim Abgreifen von Flüchtlingen und Migranten auf hoher See. Nur die wenigsten werden nach ihrer Ankunft nicht direkt wieder abgeschoben. Für Bouba ist das keine Begegnung auf Augenhöhe.
Auch in Marokko ist er immer wieder mit Respektlosigkeit und Rassismus konfrontiert. Nicht selten kommt es zu gewaltsamen Übergriffen der marokkanischen Polizei auf subsaharische Migranten. „Wir Klandestine sind hier nur die dritte Klasse“, stellt Bouba fest, „erst kommen die Touristen, dann die Marokkaner und dann wir“. „C’est la vie“, sagt er, so spielt das Leben. Dann denkt er kurz nach und räumt ein: „Nein, so spielt nicht das Leben. So spielt das System.“
*Name geändert
Floreana Miesen studiert Geographie an der Universität Bonn und schreibt als freie Autorin.
floreana.miesen@gmx.de
Literatur:
Amnesty International, 2013: Ohne Chance auf Asyl. Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen.
Human Rights Watch, 2014: Abused and expelled. Ill-Treatment of Sub-Saharan African Migrants in Morocco.
Shelley, L., 2014: Human Smuggling and Trafficking into Europe: A Comparative Perspective. Migration Policy Institute.
Link:
Solidarität mit dem Restaurant Chez Kebe:
http://www.kisskissbankbank.com/restaurant-senegalais-solidaire-a-tanger