Recht
Die alltägliche Gewalt gegen Arme
Die Juristen Gary A. Haugen und Victor Boutros prangern in einem Buch an, dass Milliarden von Armen das Menschenrecht auf Freiheit und persönliche Sicherheit verwehrt bleibe. Mittellose Menschen seien schutzlos sexueller Gewalt, Zwangsarbeit und Sklaverei, Landraub, missbräuchlicher Polizeigewalt und Folter ausgesetzt. Die Autoren belegen dies mit erschütternden Fallbeispielen etwa aus Peru, Indien und Kenia. Diese alltägliche Gewalt mache sämtliche Bemühungen der Menschen, sich aus der Armut zu befreien, zunichte. Sie unterminiere dadurch auch die wirtschaftliche Entwicklung armer Länder und torpediere alle Bemühungen zur Armutsbekämpfung, schlussfolgern die Autoren.
De facto leben viele arme Menschen in Entwicklungsländern in einem Zustand der Rechtlosigkeit. Es fehle an der Durchsetzung von Gesetzen, konstatieren Haugen und Boutros. Wohlhabende und einflussreiche Menschen machten sich zerrüttete und korrupte Rechtssysteme zunutze, um Arme zu unterdrücken und auszubeuten. Die Rechtssysteme vieler Staaten seien noch von den ehemaligen Kolonialmächten geprägt. Diese seien allein darauf ausgelegt gewesen, das Regime vor der Bevölkerung zu schützen, was vielfach bis heute gelte. Zusätzlich bedienten sich reiche und mächtige Eliten privater Sicherheitsdienste, was das öffentliche Rechtssystem noch mehr aushöhle.
Marode Rechtssysteme zeichneten sich aus durch:
- willkürliche Anklagen und Festnahmen;
- Missbrauch und Folter in der Untersuchungshaft, die Monate oder auch Jahre dauern kann, bevor es – wenn überhaupt – zur Verhandlung kommt;
- mangelnde Ausbildung und Bezahlung von Polizisten;
- mangelnde juristische Ausbildung;
- Mangel an grundlegenden Ressourcen und an Infrastruktur;
- Angeklagte haben keinen Rechtsbeistand;
- Verfahren werden in einer fremden Sprache abgehalten (z. B. Englisch oder Spanisch statt der jeweiligen Landessprache), die die Angeklagten weder sprechen noch verstehen;
- es gibt meist keine Mitschrift des Gerichtsverfahrens, die als Basis für ein Wiederaufnahmeverfahren dienen könnte.
Haugen und Boutros machen auch die Geberländer für die mangelnde Durchsetzung der Gesetze verantwortlich, denn diese widmeten dem Thema weder genügend Aufmerksamkeit noch ausreichende Mittel. Nur etwa ein bis zwei Prozent der offiziellen Entwicklungshilfe (ODA) dienten gezielten Maßnahmen zur Verbesserung des Rechtswesens zum Schutz aller Bürger. Grund hierfür seien meist die Statuten der Entwicklungsorganisationen. Diese untersagten faktisch eine Unterstützung des Polizei- und Justizsektors, um sich nicht in die inneren Angelegenheiten der jeweiligen Staaten einzumischen und um korrupte Regierungen nicht noch mehr zu stärken. Gut funktionierende Rechtssysteme und die Durchsetzung von Gesetzen seien aber eine unabdingbare Voraussetzung für nachhaltige Entwicklung, meinen die Autoren.
Victor Boutros ist Bundesstaatsanwalt in den USA und beschäftigt sich mit polizeilichem oder staatlichem Fehlverhalten wie Korruption und Amtsmissbrauch. Gary Haugen ist Gründer und Präsident der International Justice Mission (IJM), einer internationalen Menschenrechtsorganisation, die Arme vor Gewalt, Sklaverei und Menschenhandel schützt. Anhand beispielhafter Projekte, die von IJM und anderen Organisationen vorangetrieben wurden, zeigen die Autoren, dass es möglich ist, nicht funktionierende Rechtssysteme in Entwicklungsländern so zu verändern, dass sie die Armen wirksam vor Gewalt schützen. Dass es gelingen kann, beweise etwa auch die Geschichte der Polizei in den USA. Historisch betrachtet habe es laut Haugen und Boutros in keinem Land von Anfang an Rechtssysteme gegeben, die die Armen und Schwachen beschützten.
Die Autoren fordern von Entwicklungsorganisationen mehr Engagement in dem Bereich. Die Entwicklungsländer müssten sich im Gegenzug konkret zum Ausbau von Rechtssystemen verpflichten, die auch der armen Bevölkerung Schutz gewähren.
Dagmar Wolf
Quelle:
Haugen, G. A., und Boutros, V., 2016: Gewalt – die Fesseln der Armen. Worunter die Ärmsten dieser Erde am meisten leiden – und was wir dagegen tun können. Berlin, Heidelberg: Springer.
Link:
International Justice Mission Deutschland:
http://ijm-deutschland.de/