Anthropologie der Kindheit
Wie Kultur die frühe Kindheit prägt
Wie prägt die Kultur die frühe Kindheit?
Kultur hatte im Laufe der Geschichte einen großen Einfluss auf frühkindliche Erziehung. In vielen Kulturen ist ein Kind erst dann ein vollwertiger Mensch, wenn es sich fortbewegen und sprechen kann, also einen gewissen Entwicklungstand erreicht hat.
Kulturen haben diverse Mechanismen wie Rituale entwickelt, die die Kindheitsphasen begleiten. Einer ihrer Zwecke ist es, Kinderbetreuung zu erleichtern, insbesondere in Gesellschaften, in denen Säuglinge nicht als eigenständige Person angesehen werden.
In einem meiner Artikel argumentiere ich deshalb, dass entgegen der häufigen Annahme, Bindung zwischen Kind und Eltern erfordere Anstrengung, Erziehung auch „losgelöst“ funktioniert. Viele Gesellschaften glauben, Bindung entwickle sich von selbst. Kinder fühlen sich von Natur aus zu Älteren hingezogen, weil sie diejenigen sind, die Essen und andere Annehmlichkeiten haben.
Interessanterweise hat die moderne Gesellschaft eine eigene Kultur rund um Kinderbetreuung entwickelt – mit Spielzeug, Büchern, Regeln und Institutionen. Besonders in der WEIRD-Gesellschaft haben wir unser Leben um Kinder herum organisiert.
Was meinen Sie mit WEIRD-Gesellschaft?
Die Sozialwissenschaft verwendet den Begriff in letzter Zeit häufig, um auf gesellschaftliche Unterschiede hinzuweisen. Er steht für Western Educated Industrialized Rich Democracies – westliche, gebildete, industrialisierte und reiche Demokratien. Dieser Begriff ist genial, muss aber an die Realität angepasst werden. Man sollte etwa berücksichtigen, dass es viele Gemeinsamkeiten zwischen westlichen (euro-amerikanischen) und ostasiatischen pädagogischen Gepflogenheiten gibt. Der Begriff „industriell“ sollte besser durch „postindustriell“ ersetzt werden, da die WEIRD-Pädagogik in der sogenannten Wissensgesellschaft am stärksten ausgeprägt ist. „Reich“ ist ebenfalls irreführend, denn die Gemeinschaften, die sich die WEIRD-Pädagogik vollständig zu eigen gemacht haben, gehören eher zur Mittelschicht. Und es sind beileibe nicht alles Demokratien; man findet WEIRD-Gemeinschaften in jedem Land der Welt. Nichtsdestotrotz schätze und verwende ich den Begriff, weil er sich durchgesetzt hat.
In WEIRD-Gesellschaften neigen wir dazu, weniger Kinder zu haben – auch, weil wir uns dann besser auf die konzentrieren können, die wir haben. Wir investieren viel in frühkindliche Betreuung und Bildung. Vor hundert Jahren war das auch in WEIRD-Gesellschaften noch anders.
Wie wichtig ist frühkindliche Bildung?
Frühkindliche Bildung ist ein junges Konzept. Man sollte deshalb vorsichtig sein, wenn man Mütter aus verschiedenen Kulturen in Workshops hierzu schulen möchte. Die WEIRD-Ideale können sich erheblich von denen in anderen Teilen der Welt unterscheiden.
Effektiver wäre, in Bildung von Frauen zu investieren, bevor sie Mütter werden. Studien haben gezeigt, dass schon wenige Jahre Schulbildung zu Verhaltensänderungen bei Müttern führen können. Sie bekamen weniger Kinder und kümmerten sich besser um sie. Wurden Kinder krank, schätzten ihre Mütter besser ein, wann sie eine Klinik aufsuchen sollten, und deuteten ihre Symptome besser.
Frauen stehen im Fokus solcher Maßnahmen, weil etliche Studien gezeigt haben, dass in vielen Gesellschaften Väter zumindest bei der frühkindlichen Betreuung kaum beteiligt sind. In WEIRD-Gesellschaften hingegen wird dies von den Vätern erwartet.
Was bedeutet Lernen in der Kindheit in verschiedenen Kulturen?
Lernen findet nicht nur in der Schule statt, sondern nimmt unterschiedliche Formen an. In vielen Gesellschaften etwa erlernen und üben Kinder beim Spielen Fähigkeiten, die sie später als Erwachsene brauchen werden. Fantasie spielt dabei eine große Rolle. Mit ihr ahmen sie alltägliche Aufgaben wie Kochen oder Viehhüten nach. Allein beim Beobachten, Zuhören, Nachahmen und Spielen lernen Kinder viel – ich nenne es auch das „Klassenzimmer des Alltags“. Während westliche Gesellschaften großen Wert auf strukturiertes Lernen in Institutionen legen, verlassen sich viele Kulturen traditionell auf kindliche Neugierde.
Anthropolog*innen sind immer auf der Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen. Lässt sich etwas universell „Menschliches“ erkennen?
Nun, alle Kinder werden bedürftig geboren. In den ersten Jahren können sie nicht allein überleben. Deshalb werden Säuglinge weltweit gestillt. Infolgedessen binden sich alle Kinder schon sehr früh an ihre Familie und ihre Umgebung – sie wollen dazugehören.
Autonomie ist ein weiteres universelles Bedürfnis. Kinder wollen die Freiheit haben, Dinge auszuprobieren und die Welt zu erkunden. Sie sind von Natur aus neugierig.
Ein Unterschied besteht darin, wie Gesellschaften diese Bedürfnisse erfüllen. Kulturen in Afrika, Lateinamerika und Asien haben da viele Gemeinsamkeiten. Die meisten Gesellschaften betrachten Kinderbetreuung als gemeinsame Aufgabe. Manchmal ist die gesamte Gemeinschaft in die Erziehung eingebunden.
Das bedeutet jedoch nicht, dass Kleinkindern besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Nur selten versuchen Erwachsene, Kindern gezielt etwas beizubringen. Auch intensives Spielen und Reden ist nichts, worauf Wert gelegt würde.
Welche Unterschiede in der frühkindlichen Erziehung und Betreuung gibt es zwischen den Kulturen?
Wenn wir WEIRD-Gesellschaften einbeziehen, gibt es eine Menge Unterschiede. Manche Eltern in WEIRD-Gesellschaften überschütten ihre Kinder von klein auf mit Liebe, Unterhaltung und Geschenken. In vielen anderen Gesellschaften ist das nicht der Fall. Manche Mütter sehen etwa keinen Sinn darin, ihren Kleinkindern den besten Teil einer Mahlzeit zu geben, weil diese ihn noch nicht zu schätzen wüssten. Es seien die Älteren, die das verdient hätten.
In der WEIRD-Gesellschaft neigen wir dazu, jedem Bedürfnis des Kindes vorzugreifen. Im Rest der Welt geht es eher darum, das Kind die Grenzen seiner Möglichkeiten entdecken zu lassen. Spielt ein Kind etwa mit einem Messer, sorgen sich WEIRD-Eltern, dass sich das Kind schneiden könnte. In anderen Gesellschaften wird argumentier, dies sei Teil des Lernprozesses.
Welche Rolle spielen Geschwister und Gleichaltrige in der frühen Kindheit?
Kinder verbringen seit jeher viel Zeit mit ihren Geschwistern und Gleichaltrigen, insbesondere ab einem Alter von etwa 18 Monaten. Das Kind verlässt also früh das „Nest“ und geht hinaus in die Welt, umgeben von anderen Kindern.
Untersuchungen zeigen, dass Kinder nicht nur von Erwachsenen erzogen werden. Tatsächlich spielen Erwachsene zu bestimmten Zeiten im Leben eines Kindes eine eher untergeordnete Rolle. In gewisser Weise erziehen sich Kinder dann gegenseitig. In einigen Gesellschaften sind Erwachsene lediglich Vorbilder und Versorger. Fürsorge unter Geschwistern ist hingegen sehr verbreitet. Dass ältere Geschwister bis zu einem gewissen Grad für jüngere sorgen, scheint sogar universell zu sein.
Gleichzeitig gibt es für Kinder in WEIRD-Gesellschaften immer seltener Gelegenheiten, mit anderen Kindern außerhalb eines strukturierten Umfelds zu interagieren, weil Familien schrumpfen und die Erziehung immer mehr in Einrichtungen stattfindet.
Kulturen verändern sich mit der Zeit. Wie verändern sich Erziehungsmuster in einer zunehmend globalisierten Welt?
Das ist schwierig zu sagen. Aber eine Studie von Barbara Rogoff und anderen ist hier aufschlussreich. Sie untersuchten unter anderem indigene mexikanische Einwanderergemeinschaften in den Vereinigten Staaten und kamen zu der Erkenntnis: Das Ausmaß, in dem traditionelle Erziehungswerte in diesen Gemeinschaften fortbestehen, scheint davon abzuhängen, inwieweit Kinder weiterhin beim Versorgen der Familien einbezogen werden. Auch die Art der Wirtschaft, an der die Gemeinschaft teilhat – überwiegend monetär oder auf Subsistenzbasis – spielt eine Rolle.
Wenn Kinder von klein auf in diese Tätigkeiten eingebunden sind, verbringen sie auch weniger Zeit in Bildungseinrichtungen und übernehmen eher traditionelle Werte. Wenn Familien jedoch der Mittelschicht angehören, in die Stadt ziehen und stärker in die Marktwirtschaft integriert werden, übernehmen sie eher WEIRD-Werte, in denen institutionelle Bildung wichtig ist.
Behindern traditionelle Erziehungswerte die Vorbereitung auf die globalisierte Welt und multikulturelle Gesellschaften?
Ich glaube nicht, dass traditionelle Erziehungsmethoden Kinder irgendwie zurückhalten. Vielmehr sind wirtschaftliche Chancen und Beschäftigung entscheidend, um kulturelle Barrieren zu überwinden. Die meisten Eltern – auch diejenigen, die an traditionellen kulturellen Werten festhalten – möchten ihren Kindern bessere Chancen ermöglichen.
Kapitalismus und Globalisierung sind Realitäten, mit denen alle Menschen konfrontiert sind. Auch Armut gehört dazu. Familien, ob sie nun auf Tradition Wert legen oder nicht, schicken ihre Kinder in die Schule und in die Stadt, um Geld zu verdienen, das sie an ihre Familien im Dorf zurückschicken.
Buch
Lancy, D. F., 2024. Learning without lessons: pedagogy in indigenous communities. Oxford University Press.
David Lancy ist ein US-amerikanischer Kulturanthropologe. Er ist ein Pionier der Teildisziplin Kindheitsanthropologie und emeritierter Professor an der Utah State University.
david.lancy@USU.edu
https://www.davidlancy.org/