Mädchenbildung

Mädchen in Nepal haben noch immer nicht die gleichen Bildungschancen

Die nepalesische Verfassung garantiert kostenlose Grundbildung für alle und verankert ausdrücklich Frauenrechte. In der Realität wird das Leben von Mädchen aber immer noch von Traditionen wie dem Menstrua­tionstabu bestimmt. Jungen werden in Sachen Bildung klar bevorzugt.
Bei der Bildung von Mädchen geht es auch um ihr Empowerment. picture-alliance/dpa/Sina Schuldt Bei der Bildung von Mädchen geht es auch um ihr Empowerment.

Laut UNESCO-Schätzungen gehen weltweit 129 Millionen Mädchen nicht zur Schule – 32 Millionen im Grundschulalter und 97 Millionen, die eine weiterführende Schule besuchen würden. Unter anderem halten Konflikte, Armut, Kinderarbeit, Kinderheirat, geschlechtsspezifische Gewalt und die vielfältigen Folgen von Covid-19 sie von der Schule fern.

Nepal ist eines der Länder, die diese Zahlen in die Höhe treiben. Neben den genannten Gründen erschweren mehrere soziokulturelle Faktoren nepalesischen Mädchen den Schulbesuch.

Die nepalesische Gesellschaft wird von Männern dominiert. Familien ziehen Söhne den Töchtern vor. Diese Bevorzugung ist tief in traditionellen Geschlechterrollen, Bräuchen und Erwartungen verwurzelt. Aus Sicht vieler Nepalesen können nur Jungen den Namen ihres Vaters fortschreiben und den Familienzweig weiterführen.

Töchter hingegen gelten als Last. Sie werden nicht als vollständiger Teil ihrer Herkunftsfamilie angesehen, da sie ohnehin zur Familie ihres Bräutigams ziehen werden. Deshalb investieren Familien weniger in die Ausbildung ihrer Töchter. Noch schwieriger ist die Situation, wenn die Familie eines Mädchens wirtschaftlich arm ist, marginalisiert wird oder auf dem Land lebt.

Verfassungsrechtliche Garantien

Das nepalesische Recht steht im Widerspruch zu diesen Realitäten. Es verpflichtet Eltern, ihre Kinder zur Schule zu schicken – für jedes Kind zwischen vier und dreizehn Jahren besteht Schulpflicht (siehe Box). Tatsächlich garantiert die Verfassung von 2015 jedem Bürger das Recht auf kostenlose Bildung bis zur Sekundarstufe. Das bedeutet, dass Eltern kein Schulgeld zahlen müssen, wenn sie ihre Kinder auf staatliche Schulen schicken.

Für Kinder mit Behinderungen und Kinder aus wirtschaftlich schwachen Familien bietet der Staat kostenlose Hochschulbildung an. Sehbehinderte, hörgeschädigte und sprachbehinderte Kinder werden zudem kostenlos in Brailleschrift oder Gebärdensprache unterrichtet. Außerdem garantiert die Verfassung den Unterricht in der jeweiligen lokalen Sprache. Auch Frauenrechte sind in der Verfassung verankert: Frauen haben das Recht, besondere Chancen in den Bereichen Gesundheit, Beschäftigung, soziale Sicherung und Bildung wahrzunehmen. Bisher bedeutete dies in der Regel, eine bestimmte Quote zu erfüllen. So müssen beispielsweise 33 % der Parlamentsabgeordneten weiblich sein, und im Hochschulbereich werden 33 % der Studienplätze an Frauen vergeben.

Eine Klassenfrage

In Nepal gibt es zwei Schularten: öffentliche Schulen, die von der Regierung finanziert werden und daher kostenlos sind, und nichtstaatliche, gewinnorientierte Privatschulen. Meist können es sich nur Menschen aus der gehobenen Mittel- oder Oberschicht leisten, ihre Kinder auf gut ausgestattete Privatschulen zu schicken. Öffentliche Schulen stehen daher synonym für Schulen für die Unterschicht und arme Menschen. Sie fallen qualitativ stark ab, weil es ihnen an Ressourcen wie Lernmaterial fehlt. Familien aus der (unteren) Mittelschicht schicken ihre Töchter eher auf öffentliche Schulen, während die Söhne Privatschulen besuchen.

In vielen öffentlichen Schulen gibt es keine angemessenen Toiletten und Sanitäranlagen, worunter besonders menstruierende Mädchen leiden. Wegen Mangel an  Sanitäranlagen versäumen viele Mädchen aus Nepals Dörfern jeden Monat mindestens vier Schultage. Ohnehin gelten Frauen während ihrer Menstruation vor allem in den westlichen Teilen des Landes als unrein und unberührbar. Hier wird die Chhaupadi-Tradition praktiziert, die es hinduistischen Frauen verbietet, während ihrer Periode an Familienaktivitäten teilzunehmen. Sie dürfen sich dann nicht im Haus der Familie aufhalten und müssen stattdessen in einem Chhau Goth, einem Viehstall oder einer Menstruationshütte, leben.

Durch die Covid-19-Pandemie und ihre Folgen verschlechterte sich die Situation für Mädchen weiter. Weil Familien finanziell noch stärker unter Druck gerieten, bevorzugten Eltern wieder die Jungen und brachen nur die Ausbildung ihrer Töchter ab. Da nun mehr Mädchen nicht zur Schule gehen, können sie eher Opfer von Kinderheirat, Kinderhandel oder Kinderarbeit werden.

Die nepalesische Regierung hat einige Initiativen und Kampagnen zur Verbesserung von Mädchenbildung ins Leben gerufen. 2019 startete das Büro des Ministerpräsidenten der Provinz Madhesh beispielsweise eine Kampagne mit dem Titel „Beti Bachau – Beti Padhau“ („Töchter retten, Töchter ausbilden“), die sich an ähnlichen Kampagnen in Indien orientiert. Im Rahmen dieser Kampagne soll jedes neugeborene Mädchen versichert werden und nach Erhalt der Staatsbürgerschaftsurkunde rund 950 Dollar für ihre Ausbildung erhalten. Außerdem wurden Fahrräder an junge Mädchen verteilt.

Korrumpierte Initiativen

Die Kampagne sollte von geschlechtsselektiver Abtreibung abraten und Kinderheirat sowie das bestehende Mitgiftsystem in Madhesh eindämmen. Sie wurde öffentlich gut angenommen. Jedoch reichte eine Antikorruptionsbehörde – die Kommission zur Untersuchung von Amtsmissbrauch – im August 2022 beim Sondergericht in Kathmandu eine Korruptionsklage gegen sechs Personen ein, darunter der damalige Sekretär des höchsten Ministers der Provinz Madhesh. Ihnen wird vorgeworfen, minderwertige Fahrräder gekauft zu haben, die sie dann vertrieben und als hochwertige Fahrräder in Rechnung stellten.

Dadurch wurden rund 780 000 Dollar veruntreut. Der Fall ist noch beim Gericht anhängig. Er zeigt, dass die weitverbreitete Korruption auch Initiativen zur Verbesserung der Mädchenbildung in Nepal beeinträchtigt.

Die gravierenden Verzerrungen im nepalesischen Bildungssystem sind offensichtlich. Trotz der gesetzlich garantierten Grundbildung gehen bei Weitem nicht alle Kinder zur Schule. Und trotz gesetzlicher Garantien für Gleichheit und Nichtdiskriminierung haben Mädchen und Frauen nicht die gleichen Bildungschancen wie Jungen und Männer. Geschlechtsspezifische Unterschiede und Ungleichheiten bestehen in Nepal unbestreitbar fort.

Abschließend ist wichtig, anzumerken, dass es nicht nur darum geht, Mädchen zur Schule zu schicken. Es geht auch darum, ihnen Fähigkeiten, Fertigkeiten und das Selbstvertrauen zu vermitteln, unabhängig zu sein, damit sie die Macht haben, Entscheidungen über ihr Leben zu treffen und die Gesellschaft zu verändern. Es geht um Empowerment, das mit einem regulären Schulbesuch beginnt.

Rukamanee Maharjan ist Assistenzprofessorin für Recht an der Tribhuvan-Universität in Kathmandu.
rukumaharjan@gmail.com

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