Indigene Stimmen
„Es ist beachtlich, wie wir Identität wahren und uns dabei verändern“

Dieser Artikel ist Teil einer Interviewreihe, in der Indigene Stimmen aus verschiedenen Teilen der Welt zu Wort kommen, darunter ein Massai aus Kenia, eine Santal aus Indien und ein Sámi aus Norwegen.
Was bedeutet Ihnen Ihre Indigene Identität?
Meine Identität als Turkana ist tief in unserem historischen und kulturellen Erbe verwurzelt, das durch jahrhundertelange Anpassung an die trockene Umgebung im Nordwesten Kenias, insbesondere rund um den Turkana-See, geprägt wurde. Die Turkana sind eine nilotische Ethnie und Teil der Ateker-Konföderation, wie wir eine Gruppe eng verwandter Indigener Gruppen nennen: die Jie, Karamojong, Turkana, Toposa, Nyangatom, Teso und Lango. Unsere Ursprünge reichen bis in den Südsudan zurück, und wir sind im 17. Jahrhundert in unser heutiges Gebiet eingewandert.
Diese Identität ist nicht nur ein Etikett, sondern eine gelebte Erfahrung, die sich um unseren nomadischen Lebensstil als Viehzüchter*innen dreht, in dem Vieh – Rinder, Ziegen, Kamele und Schafe – für unsere Wirtschaft, unsere soziale Struktur und unseren spirituellen Glauben von zentraler Bedeutung ist. Vieh ist nicht nur ein wirtschaftlicher Wert, sondern symbolisiert Reichtum und Status und wird beispielsweise bei Verhandlungen über Brautpreise und Mitgiften eingesetzt.
Wo kommt diese Identität noch zum Ausdruck?
Unsere kulturellen Praktiken sind dynamische Ausdrucksformen dieser Identität. Beispiele hierfür sind unsere Korbflechterei, traditionelle Tänze wie Edong’a, Naleyo und Ekimuomuor sowie das jährliche Tobong’u Lore Cultural Festival (was „Willkommen zu Hause“ bedeutet).
Unsere soziale Struktur basiert nach wie vor auf Familien und Clans mit Unterteilungen wie Ngirsai (Leopard) und Ngimor (Stein), die unsere gemeinschaftliche Organisation widerspiegeln.
Frauen sind auch heute noch besonders versiert in der Herstellung von Perlenarbeiten und dem Bau temporärer Häuser aus Zweigen und Palmwedeln. Männer praktizieren nach wie vor Stockkampf und stellen Waffen wie Speere und Handmesser her.
Spirituell basiert unsere Identität auf unserem Glauben an Akuj, den höchsten Gott, und der Verehrung unserer Vorfahren, die unser moralisches und soziales Gefüge prägen. Unsere Sprache, Ng’aturkana, eine östliche nilotische Sprache, ist ein wichtiges Bindeglied zu unserem Erbe und bewahrt mündliche Traditionen in Sprichwörtern, Liedern und Geschichten. Als junge Frau bin ich bis heute stolz auf diese Identität.
Was kann die Welt von den Turkana lernen?
Die Turkana haben der Welt verschiedene Erfahrungen zu bieten, die globale Praktiken beeinflussen können, insbesondere in den Bereichen Nachhaltigkeit und sozialer Zusammenhalt. Unser Ressourcenmanagement und unsere traditionellen Wissenssysteme sind herausragend und wurden über Jahrhunderte hinweg in einer kargen Umgebung perfektioniert.
Untersuchungen zeigen, dass unsere saisonale Migration und Techniken zur Wassereinsparung, wie das Graben flacher Brunnen in trockenen Flussbetten, eine effektive Anpassung an schwierige Umweltbedingungen darstellen. Ein weiteres Beispiel ist unsere Fähigkeit, Wetterbedingungen durch Beobachtung der Sterne oder des Verhaltens von Tieren und Pflanzen vorherzusagen, was moderne Wissenschaften wie die Meteorologie bereichern kann. Solches Wissen ist angesichts des Klimawandels von entscheidender Bedeutung, da unsere Verfahren Modelle für nachhaltiges Leben in trockenen Regionen bieten.
Unsere Widerstandsfähigkeit in schwierigen Zeiten ist eine weitere wichtige Lektion. Da wir in einer der unwirtlichsten Klimazonen Ostafrikas leben, haben wir Strategien entwickelt, um zu überleben und zu wachsen, beispielsweise durch die Diversifizierung unserer Lebensgrundlagen durch Fischerei, Kleinhandel und Handwerk, insbesondere rund um den Turkana-See. Diese Anpassungsfähigkeit kann andere Gemeinschaften, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen, dazu inspirieren, moderne Techniken in ihr traditionelles Wissen zu integrieren.
Was ist mit sozialen und kulturellen Aspekten?
Unser starker Gemeinschaftssinn und unsere gegenseitige Unterstützung können ein Vorbild sein. In der Kultur der Turkana ist es üblich, in Zeiten der Not Ressourcen wie Vieh und Nahrung zu teilen, was den sozialen Zusammenhalt und das kollektive Wohlergehen fördert und im Gegensatz zu den individualistischen Tendenzen moderner Gesellschaften steht. Die Methoden der Turkana zur Konfliktlösung, wie beispielsweise der von Ältesten vermittelte Dialog, können moderne Regierungsformen ergänzen.
Unsere Fähigkeit, unsere Identität zu bewahren und gleichzeitig Wandel zuzulassen, ist ebenfalls außergewöhnlich. Wir bleiben angesichts von Herausforderungen wie Dürre, Konflikten und Marginalisierung widerstandsfähig und haben westliche Bildung, das Christentum und neue wirtschaftliche Möglichkeiten integriert, ohne unsere Grundwerte zu verlieren. So gewährleisten wir kulturelle Kontinuität in einer globalisierten Welt.
Für viele junge Menschen, mich eingeschlossen, bedeutet die Identifikation mit der Turkana-Kultur ein starkes Zugehörigkeitsgefühl und ein Unterstützungssystem, das über die Kernfamilie hinausgeht. In einer globalisierten Welt, in der junge Menschen sich oft entwurzelt fühlen, bietet unsere Kultur eine Grundlage für gemeinsame Identität und Sinnstiftung. Diese Verbindung zu unserem Ursprung gibt uns eine einzigartige Perspektive auf Resilienz und Gemeinschaft und befähigt uns, moderne Herausforderungen zu meistern und gleichzeitig unseren Werten treu zu bleiben.
Was würde die Situation der Turkana verbessern?
Unsere Situation muss sich in allen Bereichen verbessern. Der Zugang zu guter Bildung ist von entscheidender Bedeutung, da viele Kinder in Turkana, insbesondere in abgelegenen Gebieten, nicht zur Schule gehen. Der Bau weiterer Schulen, die Vergabe von Stipendien und Berufsbildungsangebote in Bereichen wie Landwirtschaft, erneuerbare Energien und Tourismus würden junge Menschen stärken und die Lebensgrundlagen diversifizieren.
Angesichts des schlechten Zustands der Straßen, der Gesundheitseinrichtungen und der Wasserversorgung in unserer Region sind auch Verbesserungen der Infrastruktur unerlässlich. Investitionen in Bohrlöcher, Bewässerungssysteme und mobile Kliniken würden den Zugang zu Wasser und Gesundheitsdiensten verbessern, während bessere Straßen abgelegene Gemeinden mit Märkten verbinden und so die wirtschaftliche Isolation verringern würden.
Nachhaltige wirtschaftliche Möglichkeiten wie Fischereigenossenschaften, Ökotourismus und Perlenstickerei, ergänzt durch Schulungen in klimafreundlicher Landwirtschaft und Zugang zu Mikrofinanzierungen, können zusätzliche Einkommensquellen erschließen, die insbesondere Frauen stärken würden.
Angesichts der Anfälligkeit unserer trockenen Region ist es außerdem von entscheidender Bedeutung, Klimawandel und Umweltzerstörung zu bekämpfen. Initiativen wie Wiederaufforstung, Wassergewinnung und Projekte im Bereich erneuerbare Energien können die Auswirkungen von Dürren abmildern. Partnerschaften mit Nichtregierungsorganisationen und der Regierung zur Wiederherstellung degradierter Flächen könnten unsere Lebensweise als Viehzüchter*innen unterstützen und Ernährungssicherheit gewährleisten.
Die Region Turkana gerät immer wieder wegen Konflikten zwischen verschiedenen Akteuren in die Schlagzeilen. Was kann hier verbessert werden?
Konflikte zwischen verschiedenen Gemeinschaften um Ressourcen halten an. Die Stärkung traditioneller Friedensmechanismen wie Ältestenräte und die Unterstützung von Entwaffnungsprogrammen können Gewalt reduzieren, während eine kooperative Ressourcenbewirtschaftung mit benachbarten Gemeinschaften die Stabilität fördern würde.
Angesichts unserer historischen Marginalisierung sind schließlich die Sicherung von Landrechten und die Gewährleistung politischer Vertretung wichtig. Sinnvolle Beratungen und eine gerechte Verteilung der Gewinne aus Entwicklungsprojekten wie der Ölförderung sowie eine stärkere politische Beteiligung auf nationaler und regionaler Ebene würden unsere Interessen schützen, insbesondere bei Großprojekten, die unser angestammtes Land betreffen.
Was ist der größte Erfolg, den Ihre Gemeinschaft erzielt hat?
Die Stärkung der Frauen in Turkana durch wirtschaftliche Initiativen wie Perlenstickerei-Kooperativen und Kleinhandel hat die Haushaltseinkommen verbessert, traditionelle Geschlechternormen infrage gestellt und zu mehr Gleichberechtigung in unserer Gesellschaft beigetragen. Das ist etwas, das ich durch meine gemeindebasierte Organisation Desert Roses mit Initiativen wie der „Let the Girl Play Initiative“ weiter fördern möchte, die junge Frauen durch die Förderung von Bildung und Führungskompetenzen im Sport stärkt und so ihr Selbstbewusstsein und ihre Chancen verbessert.

Unsere Zusammenarbeit mit der Forschung und die weltweite Anerkennung der archäologischen Stätte Koobi Fora, die bedeutende archäologische Funde hervorgebracht hat, haben Turkana als eine Wiege der Menschheit bekannt gemacht, touristische Möglichkeiten geschaffen und unseren Stolz auf unsere Identität und unsere Verbindung zu den Ursprüngen der Menschheit gestärkt.
Die größte Errungenschaft der Turkana ist jedoch unsere anhaltende Widerstandsfähigkeit und kulturelle Kontinuität trotz zahlreicher Herausforderungen. Unsere Fähigkeit, unsere Traditionen und Lebensweise über Generationen hinweg zu bewahren und der heutigen Jugend ein Gefühl der Identität zu vermitteln, während wir uns gleichzeitig an Veränderungen anpassen, ist ein Beweis für unsere Stärke.
Rael Nkoi Lomoti ist Gründerin von Desert Roses und eine Turkana. Ihr Buch "Roses Will Rise" erscheint im Oktober.
desertrosesturkana@gmail.com