Erinnerungen
„Wir hatten keine Kolonien“
Interview mit Walter Scheel
Es heißt, Sie hätten Ihre Arbeit als Entwicklungsminister zunächst an einem Tisch in der Bundestagskantine aufgenommen. Stimmt das?
Richtig ist, dass das Ministerium noch keinen Amtssitz hatte und wir die Räume erst zugewiesen kriegen sollten. Aber als Bundestagsabgeordneter, der ich seit 1953 war, hätte ich natürlich die ersten Gespräche auch in meinem Büro führen können. Aber es ergab sich einfach, dass wir Abgeordnete uns gerne in der Kantine trafen. So kam es dann, dass wir auch die ersten Gespräche während des Essens aufnahmen. Später kam dann eine Frau zu mir und fragte mich, ob ich ihr eine Beschäftigung vermitteln könnte. Per Handschlag habe ich sie dann als erste Mitarbeiterin des Ministeriums eingestellt – und zwar als Putzfrau!
Es wird oft gesagt, in den 60er Jahren sei für die westdeutsche Entwicklungspolitik ausschlaggebend gewesen, ob ein Land die DDR anerkannt hat oder nicht. Wie hat der Ost-West-Konflikt Ihre Arbeit als Entwicklungsminister geprägt?
Für mich und meine Partei war der Ost-West-Konflikt in den fünfziger und sechziger Jahren dominierend. Die Deutschlandfrage wurde bei uns in der FDP mit Papieren, Veranstaltungen und Diskussionen sehr intensiv und kontrovers bearbeitet. Diese Diskussionen sind auch an der deutschen Entwicklungspolitik nicht spurlos vorbeigegangen. Natürlich wurden Unterschiede gemacht zwischen den kommunistischen Ländern und der westlichen Welt. Aber ich habe mir immer herausgenommen, dass wir den Menschen helfen wollen, die Not leiden. Ich habe zum Beispiel sehr gut mit Julius Nyerere, dem ersten Präsidenten Tansanias, zusammengearbeitet. Wir haben uns häufig getroffen und uns gegenseitig sehr geschätzt und gemocht. Nyerere verkörperte einen afrikanischen Sozialismus. Aber wenn wir über die verschiedenen Projekte sprachen, ging es nicht um Marktwirtschaft oder Politikwissenschaften, es ging um die Menschen in Ostafrika.
Welche anderen Kriterien waren für Sie damals wichtig?
Mir waren zwei Themen wichtig, die immer noch große Bedeutung haben: erstens die Freiheit der notleidenden Menschen zu stärken oder zu schaffen und zweitens eine wirtschaftliche Zusammenarbeit zu fördern. Mir kam es darauf an, dass unser industrielles Wissen an die Staaten der Dritten Welt weitergegeben werden kann. Daher war ich immer gegen eine Scheckbuchentwicklungshilfe und habe versucht, die Unternehmungen zu stützen – gerne auch zu unserem eigenen wirtschaftlichen Vorteil, wenn denn beide Seiten profitieren konnten. Für beide Themen wurden in der Gründungsphase des Ministeriums wichtige Einheiten gegründet: Die politischen Stiftungen wurden mit der Auslandsberatung betreut und wir gründeten die DEG und den Vorgänger der heutigen GIZ. Bis heute haben diese Institutionen einen weltweiten Auftrag und sind über alle Maßen geschätzt und anerkannt.
Ein Buch, das Sie damals verfasst haben, hieß „Konturen einer neuen Welt“. Welche dieser Konturen erkennen Sie heute noch – und welche sind mittlerweile historisch überholt?
Die Welt hat sich in den letzten Jahren wahrlich verändert. Dennoch bleiben viele Ansätze von damals bestehen. Die Themen Freiheit und wirtschaftliche Zusammenarbeit habe ich ja eben schon besprochen.
Was sich allerdings gezeigt hat, ist, dass die Schwellenländer zu modernen Industriestaaten geworden sind. Vor allem muss ich dabei an Brasilien und China denken. Oft war ich damals in Brasilien unterwegs. Was für ein Kontrast zu heute! Und auch China ist ein faszinierendes Beispiel für „Konturen einer neuen Welt“ – ein schöner Titel. Bestimmt bin ich nicht selbst darauf gekommen!
Die EU spielt heute eine eigene entwicklungspolitische Rolle. Hat sich das in Ihrer Amtszeit schon abgezeichnet?
Die europäische Idee war damals erst im Entstehen. Daher halte ich wenig von einem Vergleich mit heute. Aber bevor ich Entwicklungsminister wurde, war ich Vorsitzender des Entwicklungsausschusses im Europäischen Parlament. Das bestimmende Thema war damals die Begleitung der einzelnen Staaten bei ihren Unabhängigkeitsbemühungen, insbesondere bei der Unabhängigkeit von den Kolonialmächten. Als deutscher Politiker war ich dafür gut geeignet, weil wir ja keine Kolonien mehr hatten. Damals habe ich begonnen, die Staaten zu besuchen und zu prüfen, wie Europa helfen kann.
Sie sind der einzige deutsche Politiker, der in seiner Karriere sowohl Entwicklungs- als auch Außenminister gewesen ist. Das Verhältnis der beiden Häuser war häufig gespannt – nicht zuletzt aus parteipolitischen Gründen. Wie haben Sie das erlebt?
Eigentlich gab es wenig Schwierigkeiten. Nur in der Anfangsphase war es ein Kunststück, aus allen Ministerien die jeweilige Entwicklungsabteilung herauszulösen und dem BMZ zuzuschlagen. Aber wir hatten das in der Koalition so besprochen und konnten uns durchsetzen.
Afghanistan ist ein Land, mit dem Sie als Entwicklungsminister zu tun hatten. Heute stellt es die vermutlich größte entwicklungspolitische Herausforderung überhaupt dar. Woran erinnern Sie sich?
Ich möchte Ihnen eine kurze Geschichte erzählen – vorher aber noch berichten, dass ich noch heute den wunderbaren Geschmack von Weintrauben im Gedächtnis habe, die ich dort gegessen habe. Wir besuchten damals Afghanistan auf einer sehr langen Reise. In Kabul besuchten wir den König in seinem beeindruckenden Darul-Aman-Palast und dann ging es weiter gen Westpakistan, hinauf zum Khyberpass. Nachts schliefen wir in Zelten und erlebten die Kälte des Hindukusch. Unter meinem Kopfkissen hatte ich immer eine Pistole. Eines Nachts merkte ich, wie plötzlich jemand in mein Zelt kam. Ich entsicherte die Waffe und wollte beinahe schon in die Dunkelheit schießen, als ich merkte, dass lediglich der Wärmestein in meinem Zelt ausgetauscht wurde. Das waren andere Zeiten als heute!
Welche Themen werden Ihrer Meinung nach in den nächsten Jahren für die Weltgemeinschaft besonders wichtig sein?
Mir wäre lieber, Sie würden diesen Ausblick unseren tüchtigen Minister Dirk Niebel formulieren lassen. Aber ich will Ihnen gerade aus der Sicht eines sehr alten Menschen dazu etwas sagen. Wir Alten „unter uns“ reden oft über Naturkatastrophen. Ich beobachte, dass es immer wieder Thema unter uns ist. Und ich glaube und bin davon überzeugt, dass Naturkatastrophen eine der großen Herausforderungen der Zukunft für die Entwicklungspolitik sind. Fukushima ist nur ein kleines Beispiel. Die Hungerkatastrophe am Horn von Afrika hat wieder andere Gründe und Einflüsse. Sie geht aber auf eine im Gegensatz zu früher noch extremere Dürreperiode zurück. Obgleich Sie mich als hoffnungslosen Optimisten kennen, muss ich Ihnen doch meine Sorgen darüber verraten.
Wird es das BMZ in 50 Jahren immer noch geben?
Ich würde es mir zumindest wünschen. Aber es wäre auch möglich, Kompetenzen zusammenzulegen und dem Ministerium einen anderen Namen zu geben. Was es in 50 Jahren immer noch geben wird, ist eine fabelhafte deutsche Entwicklungspolitik. Wir können auf das Geleistete nämlich sehr stolz sein und ich prophezeie, dass man in 50 Jahren ebenso stolz zurückblicken kann – und zwar auf 100 Jahre.
Die Fragen stellten Hans Dembowski und Peter Hauff.